Wonder Woman ist eine Amazone. Sie lebt auf der Insel Themiskyra, mitten im Mittelmeer, verborgen hinter einem mysteriösen Nebel. Auf dieser Insel gibt es nur Frauen, erschaffen von Zeus zum Schutz der Menschen. Denn der böse Kriegsgott Ares hat die Menschen vergiftet, sodass sie nicht mehr im paradiesischen Frieden und im Zustand vollkommener Glückseligkeit leben können, sondern sich hassen, bekriegen und töten. So will es zumindest der Film.
Die Amazonen leben nun auf ihrer wunderschönen Insel vor sich hin, erproben sich im Kampf und hüten in ihrem Turm eine Waffe, die stark genug ist, einen Gott zu töten.
Die Frauengesellschaft auf Themiskyra lebt in perfekter Harmonie. Die «Wonder Woman»-Idylle erinnert an Jakob Bachofens Beschreibung des Matriarchats (Gynaikokratie). Eine ursprüngliche Gesellschaftsform vor dem Patriarchat, in dem die Frauen das Sagen hatten, weil sie auf magische Weise mit der Natur verbunden sind. Sie sind die Erschafferinnen von Leben – und eins mit dem Universum.
Dieser Frauenstaat ist laut Bachofen gekennzeichnet durch die «Abwesenheit innerer Zwietracht» und die «Abneigung gegen Unfrieden». Eine Vorstufe der Menschheit also, die noch nichts wusste von Krieg, Verwüstung und Hass.
Dieses romantische Matriarchat, das Bachofen 1861 skizzierte, ist historisch nicht nachweisbar. Ein Mythos. Der aber bis heute vor allem von feministischen Strömungen immer wieder zum Leben erweckt wird.
Die Amazonen in «Wonder Woman» merken in ihrem paradiesischen Refugium einfach nicht, dass draussen schon längst der Erste Weltkrieg tobt. Bis ein Amerikaner vom Himmel fällt und zur Bestimmung Dianas wird: Die Tochter der Amazonenkönigin Hippolyta will ihn auf die Schlachtfelder begleiten, um Ares zu töten. Denn nur so könne man den Krieg beenden, glaubt «Wonder Woman» – und bricht auf, ihre heilige Pflicht zu erfüllen.
Irgendwo zwischen ihrem heldenhaftem Einsatz im Niemandsland und der Vernichtung eines belgischen Dorfes durch das von Isabel «Dr. Poison» Maru entwickelte Senfgas (auch das eine Frau!) beginnt der idealistischen Diana zu dämmern, dass nicht Ares die Menschen böse gemacht hat. Sie sind es selbst! Sie sind eine verzwickte Mischung aus Gut und Böse. Doch trotz all ihrer Fehlbarkeiten entscheidet sich Wonder Woman für den Kampf an der Seite der Menschen. Für das Gute in ihnen. Für die Liebe und die ursprüngliche Brüderlichkeit aller.
Wonder Woman ist eine hochgradig idealisierte Frauenfiktion und ihre Wurzeln reichen bis ins antike Griechenland – zu den sagenhaften Amazonen. Doch wer waren diese kriegerischen Frauen wirklich?
Die Griechen verlegten dieses mythische Frauenvolk an den Rand der damals bekannten Welt. Anfangs sollen sie im Gebiet der Thraker (Balkan) gelebt haben, als man dieses Gebiet später jedoch erkundet hatte, verschob man ihre Wohnstätte ans südliche Ufer des Schwarzen Meers in die Stadt Themiskyra (Türkei), die vom Fluss Thermodon durchflossen wird.
Keiner der Dichter, Redner und Geschichtsschreiber hat die Amazonen je zu Gesicht bekommen. Wir sehen diese Frauen also stets durch die Augen der griechischen Überlieferung. Fremdsicht, gepaart mit einer ordentlichen Prise Fantasie, die sich vom 7. Jahrhundert bis ins 1. Jahrhundert v. Chr. auch immer wieder der sich verändernden Lebenswelt der Griechen anpasst.
In den Quellen werden diese kriegerischen Frauen als männergleich, männerbezwingend, manchmal auch als männerfeindlich oder männervertilgend beschrieben, sie tragen Waffen, reiten auf ihren Pferden in den Kampf und sie verschmähen weibliche Tätigkeiten. Die Herleitung ihres Namens ist bereits in der Antike umstritten und bis heute ungeklärt. Manche leiteten ihn von «a-mazos» – griech. für brustlos – ab.
Denn die Amazonen sollen gemäss einigen Überlieferungen ihren kleinen Töchtern die rechte Brust verstümmelt oder ausgebrannt haben, damit sie den Bogen ungehindert abschiessen konnten. Auf bildlichen Darstellungen in Tempeln, auf Trinkgefässen und Vasen sind sie allerdings stets mit unversehrten Brüsten zu sehen.
Ihre männliche Nachfahren würden sie laut einigen Autoren ebenso verstümmeln, um sie für den Kriegsdienst untauglich zu machen. Oder sie beseitigten sie gleich ganz.
Das erste Mal finden die Amazonen Erwähnung in Homers «Ilias», die irgendwann im 8. oder 7. Jahrhundert v. Chr. entstanden ist:
Hier erinnert sich der Held Glaukon an die ruhmreichen Taten seines Grossvaters Bellerophontes, der erst die Chimäre – das feuerspeiende Mischwesen aus Löwe, Drache und Ziege – bezwungen und danach die Amazonen niedergemacht hatte.
In dieser homerischen Kriegerkultur gehörte der siegreiche Kampf gegen die kampferprobten Frauen zum Katalog der Heldentaten. Amazonen mussten also den Männern ebenbürtig sein, denn wären sie zu schwache Gegner, wäre ein Triumph über sie keine ruhmreiche Tat. Doch sie gehörten eher dem Reich des Aussergewöhnlichen an, einer widernatürlichen Welt – so wie die Chimäre. Wesen also, welche die natürliche Ordnung missachten und so die Überlegenheit des Menschen in Frage stellen. Der arachaische Held muss diese Ordnung wiederherstellen, indem er die widernatürlichen Kreaturen besiegt.
Im 7. vorchristlichen Jahrhundert taucht erstmals eine Amazone mit Namen auf: Penthesileia, eine Thrakerin und Tochter des Ares. Der Kriegsgott als Stammvater der Amazonen! Nicht deren Feind, wie es in «Wonder Woman» erzählt wird. Ares sollte aber vor allem die aussergewöhnliche Kriegsbefähigung der Amazonen (griech. areios) erklären, aktiv tritt er niemals für sie in Erscheinung.
Penthesilea nun kämpft mit ihrem Volk auf der Seite der Trojaner gegen die Griechen. Der beinahe unverwundbare Achilleus tritt gegen sie an und besiegt sie. Doch noch während die Amazone in seinen Armen stirbt, verliebt sich der Held in sie. Und setzt unverzüglich zu einer bitteren Klage darüber an, warum beim Teutates er die Schöne getötet und nicht als Braut nach Hause geführt habe.
Der Held verknallt sich in die Amazone! Das weist sie nun schon sehr klar als Frau aus. Es bestehen fortan also zwei Möglichkeiten: Der Held kann die Amazone entweder im Kampf besiegen – oder heiraten.
Eine von Herakles' 12 Aufgaben bestand darin, den Zaubergürtel der Amazonenkönigin Hippolyte zu klauen. Ihr Vater Ares hat ihr diesen einst geschenkt und er glänzte derart prächtig, dass er Hippolytes Gegner in der Schlacht zu blenden vermochte.
Die Amazonen unterliegen in der Schlacht gegen den griechischen Helden, Hippolytes Schwester wird gefangen genommen. Im Austausch gegen sie händigt die Amazonenkönigin Herakles ihren Gürtel aus.
Der Held schafft es, ihr «den Gürtel zu lösen», was im Griechischen auch den Geschlechtsakt meinen kann. Attische Frauen weihten ihre Gürtel vor der Hochzeit der Göttin Artemis, was den Verlust der Jungfräulichkeit symbolisierte. Wieder sind hier also die zwei Möglichkeiten des Siegs erkennbar: Der Kampf oder die Liebe.
Gemeinsam mit Herakles zog auch Theseus – der mythische König von Athen und Bezwinger des Minotaurus' – gegen die Amazonen. Doch er verliebt sich unsterblich in Antiope, die Schwester Hippyolytes, macht sie zu seiner Braut, verschleppt sie nach Athen und zeugt mit ihr einen Sohn namens Hippolytos. Die Amazonen lassen sich diesen Raub selbstverständlich nicht gefallen und ziehen nach Athen. Die Kämpfe dauerten drei Monate an und je nach Überlieferung unterlagen die Amazonen (die bevorzugte Version der Athener) oder Antiope setzte dem Krieg durch Vermittlung ein Ende.
Die Amazonen werden auch in diesem Mythos besiegt, Antiope durch die Liebe, ihr Volk durch den Kampf. Doch es ist das erste Gefecht, das nicht in der Ferne, sondern im Herzen Griechenlands ausgefochten wird. Theseus, als der mythische Gründer Athens und Nationalheros, wird ab dem 6. Jahrhundert immer mehr zur Identifikationsfigur der aufstrebenden Stadt. Die Phase der Einzelherrschaft (Tyrannis) ist vorbei, die Polis wird demokratisiert und von einer funktionierenden Bürgerschaft regiert. Und diese ist es dann auch, die sich erfolgreich gegen die einfallenden Amazonen zur Wehr setzt. Es sind nicht mehr länger die Einzelhelden wie Achilleus oder Herakles, die die kriegerischen Frauen besiegen, sondern die Gemeinschaft der Athener.
Berichte über die Amazonen werden aus der mythischen Zeit bis in die Gegenwart der Autoren weitergegeben. Selbst die Geschichtsschreiber zweifeln grundsätzlich nicht an ihrer Existenz, doch sie versuchen dieses geheimnisvolle, fremde Volk zu rationalisieren.
Bei Herodot, der im 5. Jahrhundert v. Chr. lebte, lesen wir, dass die Amazonen nach der Niederlage gegen die Athener im Gebiet der Skythen nördlich des Schwarzen Meers gestrandet seien, wo sie sich mit dem Reiternomadenvolk zusammengetan hätten. Doch weil sie sich der Lebensweise dieser Menschen nicht anpassen wollten, gründeten sie weiter nördlich das Reich der Sauromaten.
Dort lebten sie, wie es ihre Vorfahren seit Jahrhunderten getan hätten: Sie gehen zu Pferd auf die Jagd, kämpfen wie Männer und keine Frau heiratet, bevor sie nicht einen Feind erschlagen hat:
Im Zuge der Perserkriege, die die Griechen im frühen 5. Jahrhundert v. Chr. ausfechten, werden die Amazonen immer mehr als fremdes, barbarisches Volk dargestellt. Sie sind monarchisch, also ganz und gar anti-griechisch organisiert, sie essen Fleisch in rauen Mengen – auch das ein klares Zeichen für mangelnde Kultur. Sogar auf Trinkgefässen und Vasen sind sie nun wie skythische Krieger gekleidet. Perser wie Amazonen haben in hochmütiger Manier (Hybris) versucht, griechischen Boden zu erobern – und beide sind sie gescheitert.
Um 330 v. Chr., als Alexander der Grosse auf seinem Feldzug gegen die Perser mit seinen Truppen am südlichen Kaspischen Meer lagerte, kam die Amazonenkönigin Thalestris in sein Lager geritten, begleitet von 300 vollbewaffneten Kriegerinnen. Ein Kind wolle sie von ihm haben, erklärte sie dem makedonischen König. Denn er habe sich als grösster aller Männer erwiesen, sie hingegen sei mutiger und stärker als alle anderen Frauen. Ein gemeinsames Kind würde alle Sterblichen an Kraft und Mut übertreffen.
Nach 13 Tagen gemeinsamen Verkehrs habe er laut dem Geschichtsschreiber Diodor die Amazonenkönigin «reich beschenkt» entlassen.
Einen Kampf wird zwischen den beiden nicht mehr ausgefochten. Thalestris würdigt Alexanders Stärke, sie will sich nur noch mit ihm vereinigen, um starken Nachwuchs zu zeugen.
Für die Griechen, allen voran für die Athener, hatte der Amazonenmythos die Funktion der Identitätsstiftung. Ein Sieg über sie bedeutete die allerhöchste Anerkennung, erst für die einzelnen Heroen der mythischen Zeit, später für Athen als demokratischen Stadtstaat. Sie wurden als ernstzunehmende Gegnerinnen verstanden, als den Männern gleichwertige Kriegerinnen, in die man sich nicht zuletzt auch verlieben konnte. Sie sind begehrenswert, sie können zur Ehegefährtin werden, gleichzeitig sind sie auch exotisches Feindbild, barbarisch und faszinierend, gefürchtet und ehrwürdig zugleich.
Naheliegend scheinen natürlich auch feministische Auslegungen der Amazonenmythen. Eine Horde Frauen, die die männliche Furcht vor weiblicher Macht symbolisiert. Der Sieg über die Kriegerinnen sollte die Richtigkeit des Patriarchats bestätigen. Die Amazonen werden von den Männern geschlagen, sie domestizieren damit das Wilde in der Frau. Sie gehört ein für allemal ins Haus, so wie das bei der klassischen, beinahe rechtlosen Athenerin der Fall ist. Die Amazonen kriegen zurecht auf den Deckel, weil sie sich dem männlichen Überlegenheitsanspruch widersetzen.
So einfach ist das aber nicht. Amazonen wurden vom 7. vorchristlichen Jahrhundert bis in die Zeit der römischen Eroberung als Legitimationsfiguren herangezogen. Die gesellschaftliche Dominanz der Männer war da schon längst Tatsache und eine kämpfende Frauengesellschaft eine griechische Unmöglichkeit.
Die Amazonen sind Wesen aus der Zeit der Heroen und als sie die Schreiber in ihre Gegenwart zogen, liessen sie sie dafür immer weiter weg leben: Von Thrakien wanderten sie ans südliche Ufer des Schwarzen Meers, von dort in den Norden ins Gebiet der Skythen, am Ende verbannte man sie sogar nach Libyen auf den afrikanischen Kontinent. Als wollte man sie nicht entzaubern, blieben sie immer weit entfernte, nicht ganz fassbare mythische Wesen.
Offenbar nicht sehr viel. Die antike Amazone, so wie die Griechen sie sich vorstellten, hat wenig gemein mit Wonder Woman. Diana entspringt eher der romantischen Vorstellung eines Matriarchats, wie es Bachofen einst beschrieben hat. Im Film sind die Amazonen die Bewahrerinnen einer ursprünglichen, vollkommenen Harmonie, eine Art Liebeskämpferinnen. Ein neuer Mythos wird hier gesponnen, einer für ein modernes Publikum, das sich nach einer idealistischen Heldin sehnt, die einer von Kriegen übersäten Welt wieder Frieden und Versöhnung zu bringen vermag.