Ein Bär hat einen Menschen getötet – ein tragischer Unfall. Doch die mediale Aufmerksamkeit ist riesig und gipfelte in der «Bild»-Schlagzeile: «Der Tod kommt nach Bayern», als sich vor ein paar Tagen ein Bär anschickte, vom Südtirol über Österreich in die Bayerischen Wälder einzuwandern. Doch warum generiert ein tödlicher Unfall mit einem Bären so ungleich viel mehr Aufmerksamkeit als ein genauso tragischer tödlicher Unfall in der Arbeitswelt oder im Strassenverkehr? Und wie gefährlich sind Bären wirklich?
Psychologen erklären gerne, die Angst vor einem Bären oder einem Wolf stamme aus unserer Entwicklungsgeschichte, als unsere Ahnen in der Steinzeit von gefährlichen Raubtieren erbeutet wurden. Doch das muss hinterfragt werden: Was wissen denn diese Psychologinnen über unsere Vorfahren?
Bis ins frühe letzte Jahrhundert lebten in Amerika noch zahlreiche Völker der Ureinwohner (die sogenannten «Indianer», was diese aber gar nicht gerne hören) auf der Kulturstufe des Jagens und Sammelns und ernährten sich vollständig aus der Natur wie unsere Vorfahren vor mehr als 6000 Jahren in Europa. Doch bei den indigenen Völkern Amerikas, die oft in Gebieten mit vielen Bären leben, sucht man in den ursprünglichen Überlieferungen vergeblich nach dem Feindbild grosser Prädatoren (Beutegreifer) wie Bär, Wolf oder Puma, wie es in der Welt der Weissen seit ihrer Einwanderung aus Europa Standard ist.
Fakt ist nämlich genau das Gegenteil: Die Prädatoren geniessen bei den indigenen Völkern grossen Respekt und werden wie alle anderen Lebewesen auf Augenhöhe mit den Menschen betrachtet. Bären sind oft «Alter Egos» angesehener Leute, die sich mit ihnen identifizieren, und sie werden verehrt. Wölfe werden als hervorragende Jäger bewundert und gelten als Symbol für Empathie und Fürsorglichkeit in der Familie, ja sogar als Beispiel für bedingungslose Liebe und Treue.
Die Angst der Menschen vor den im Deutschen bezeichnenderweise «Raub»tiere genannten Arten stammt aus der Zeit der Ackerbau- und Viehzuchtgesellschaften späterer Jahrtausende und gipfelte im 19. Jahrhundert, als in Mitteleuropa Wölfe und Bären weitgehend ausgerottet wurden – übrig blieben die schrecklichen Mythen über diese Arten bis in unsere Zeit, weil die grossen Prädatoren während langer Zeit mit den mehrheitlich sehr armen Viehhaltern in Konflikt standen und deren Existenz durch das Reissen von Nutztieren gefährdeten.
Dabei griffen sie auch ab und zu Menschen an, die sich ihnen in den Weg stellten. Und in Zeiten des Chaos bei Seuchen- oder Kriegszügen wurden Bären und Wölfe kaum noch verfolgt und hatten mit unzähligen streunenden Nutztieren und teilweise auch mit vielen menschlichen Leichen eine ergiebige Nahrungsquelle. Aus diesen Konflikten der Menschen mit der Natur bildete sich in den ländlichen Gesellschaften ein möglicherweise bis in die Vererbung der Familien eingraviertes Misstrauen gegenüber den grossen «Raubtieren».
Ein Misstrauen, das bis heute fortbesteht und bei einem Schlüsselereignis wie dem aktuellen Bärenunfall sofort wieder hervorschnellt und Emotionen wachruft, selbst bei der städtischen Bevölkerung, die aber oft weit zurück – und damit genetisch – eine ländliche Familiengeschichte hat.
Diese Ängste dominieren oft unsere Gedanken an grosse Prädatoren in unseren Landschaften, ohne dass die Unfallzahlen eine tatsächliche Gefährdung der Menschen belegen würden: Seit sie in den letzten Jahrzehnten in viele Gebiete ihres ursprünglichen Vorkommens in Mittel- und Südeuropa zurückgekehrt sind, kam es in der Kulturlandschaft zu unzähligen Begegnungen von Menschen mit Bären und Wölfen – dabei war der Zusammenstoss mit der Bärin im Trentino der erste tödliche Bärenunfall. Eine tragische Begegnung, die auf das Zusammenspiel verschiedener, unglücklicher Faktoren zurückzuführen ist. Doch davon später.
Einige weitere, insgesamt doch sehr vereinzelte Angriffe von Bären auf Menschen in Italien, bei denen es zu Bissen oder Kratzverletzungen kam, sind in Wirklichkeit der Beweis für die Harmlosigkeit und Gutmütigkeit der Petze. Wer weiss, wie viel Kraft sie haben und wie sie mit einem Prankenhieb ohne Weiteres einem Menschen den Kopf abschlagen können, erkennt ohne Zweifel, dass diese Bären die Menschen nicht wirklich verletzen oder töten wollten. Sie wollten bloss nachhaltig deutlich machen: «He! Du bist mir im Weg! Verschwinde!» Dies mitunter dann, wenn die Menschen diesen Bären – absichtlich oder unverschuldet – zu nahe gekommen waren.
Aber werden Bären Menschen tatsächlich gefährlich? In allen Bärengebieten der Welt kommt es gelegentlich zu Unfällen – auch zu tödlichen. Was steckt da dahinter? Am meisten weiss man darüber in Nordamerika, wo jedes Jahr mehrere Menschen durch Bären ums Leben kommen. Sehr selten erfolgen diese Angriffe – durch Schwarz- oder durch Braunbären, die in Amerika Grizzlies genannt werden – eindeutig in Prädationsabsicht: Das heisst, die Bären wollen die Menschen töten und fressen und tun dies auch.
Dabei gibt es berühmte Opfer wie den «Grizzlyman» Thimothy Treadwell, der sich 13 Jahre lang in nächster Nähe zu diesen Tieren medial präsentierte und für ihren Schutz kämpfte. 2003 wurde der Bärenaktivist und Filmer neben seinem Zelt im Bärengebiet Alaskas zusammen mit seiner Partnerin getötet und teilweise gefressen. Ebenso wie der bekannte Bärenfotograf Hoshino Michio, der 1996 in Kamtschatka aus seinem Zelt geholt wurde.
Diese berühmten Opfer erwiesen ihren Schützlingen im wahrsten Sinne des Wortes einen Bärendienst, denn anstatt deren Harmlosigkeit zu beweisen, war der Tod dieser «Bärenflüsterer» scheinbar ein Beweis für die Gefährlichkeit der Tiere. Dass diese erfahrenen Fachleute in beiden Fällen elementare Verhaltensregeln in der Nähe ihrer Lieblinge sträflich missachteten, würden makabrerweise beide im Nachhinein bestätigen.
In Europa – im Gegensatz zu Amerika und Nordasien – kommen Prädationsangriffe von Bären auf Menschen kaum vor: Der jahrtausendelange Krieg zwischen Menschen und Bären sorgte für eine rigorose Auslese, die es im relativ spät kolonisierten Amerika nicht gab: In Europa hatten lange Zeit nur scheue Bären, die Menschen auswichen, eine Chance, zu überleben – und sie gaben diese Scheu auch ihren Nachkommen weiter.
Das kann sich aber ändern, wenn die Bärenpopulation wie etwa in Rumänien stark anwächst. Das ist möglich, weil sich Bären als Allesfresser gut anpassen können und in der Kulturlandschaft – wie Wildschweine – reichlich Nahrung finden. Sie sind enorm kräftig und holen sich, was sie wollen. Dadurch können aber Übergriffe auf Nutztiere und landwirtschaftliche Kulturen und somit bei vielen Begegnungen auch Angriffe auf Menschen zunehmen, wie etwa in den letzten Jahren in Rumänien. Dann kann nicht nur die konsequente Entfernung von aufdringlichen und aggressiven Bären, sondern auch die Regulierung der Population – nicht deren erneute Ausrottung – durch Abschüsse notwendig werden: im Interesse der Bären selbst und ihrer nachhaltigen Koexistenz mit den Menschen in der Kulturlandschaft.
Ein weiteres geflügeltes Wort charakterisiert die imposanten Petze treffend: der Bärenhunger. Weil sie viel Futter benötigen und dieses im Winter rar ist, ziehen sich Bären in der gemässigten und subarktischen Klimazone in einen Winterschlaf zurück, um Energie zu sparen. Die Energie, das Fett für den Winterschlaf, müssen sie sich in den wärmeren Jahreszeiten anfressen. Braunbären und Schwarzbären ernähren sich in normalen Verhältnissen zu über 80 Prozent vegetarisch.
Frisches Pflanzenfutter ist im Frühling nach ihrem Winterschlaf knapp, also halten sie sich dann eher an Fleischnahrung: Etwa Kadaver von Huftieren, die im Winter verendeten und unter dem Schnee hervorkommen, sowie neugeborene Hirsche oder Elche. In Schweden etwa fallen um die 25 Prozent der neugeborenen Elchkälber den Bären zum Opfer. Um grössere, gesunde Huftiere zu erbeuten, sind Bären aber zu schwerfällig und langsam.
Was jedoch nicht heisst, dass sie auf Fleisch verzichten müssen – dort, wo es Wölfe gibt: Bären sind mit Krallen, Zähnen und sprichwörtlichen Kräften so wehrhaft ausgerüstet, dass sie selbst mehreren Wölfen, die als schnelle und ausdauernde Läufer regelmässig Beute machen, diese streitig machen. Wenn sie Hunger haben, sind Bären potente «Verdränger», die jeden schwächeren Konkurrenten – auch eigene Artgenossen – rücksichtslos von einer Mahlzeit wegjagen. Auch menschliche Jäger von einem soeben erlegten Tier …
Damit sind wir bei den speziellen Situationen, die Bären für Menschen gefährlich machen können:
Aus diesen speziellen, kritischen Situationen lassen sich einfache Verhaltensregeln ableiten, die das Wandern in Bärengebieten sehr sicher machen.
Falls du unvermittelt auf einen Bären stösst: Das sind die Verhaltensregeln, die amerikanische Nationalparks ihren Besuchern, die im Park wandern und campieren, mit auf den Weg geben:
In den Waldgebieten in den USA und Kanada kann man zudem in jedem Supermarkt Pfefferspray gegen Bären kaufen. Diese Sprays lassen sich über mehrere Meter versprühen und wehren im Fall des Falles einen aufdringlichen Bären recht zuverlässig ab.
Sich in einem Bärengebiet zu bewegen, heisst: Ganz einfach ein paar Regeln zu beherzigen, wie sie für uns alle im Strassenverkehr selbstverständlich sind. Etwa auf der Autobahn mit 120 km/h fahren oder dort, wo Lastwagen lange Bremswege und tote Winkel haben. Dich sichtbar und erkennbar machen und für die Chauffeure und andere Verkehrsteilnehmende keine überraschenden Schritte unternehmen! Augen und Ohren auf und die Gefahrenzonen im Verkehr berücksichtigen und meiden. Dabei nehmen wir ganz alltäglich – etwa im Strassenverkehr, beim Sport in der Natur oder im Alpinismus – objektiv gesehen weit höhere Risiken für unser Leben in Kauf, als bei jedem Spaziergang in einem Wald, in dem es Bären gibt.
Beim aktuellen, tragischen Bärenunfall kamen verschiedene der erwähnten Negativfaktoren zusammen, die für den Menschen – und im Nachhinein vielleicht auch für die Bärin – zum tödlichen Ausgang der Begegnung führten:
Kommt dazu, dass in den letzten Jahren im Trentino Verhaltensregeln gegenüber Bären für die Bevölkerung und für Touristen – anders als in Amerika und im Gegensatz zu den ersten Jahren nach der Aussetzung – von den Behörden kaum mehr aktiv kommuniziert wurden.
Wie von Schweden bis nach Italien und Griechenland, vom Kaukasus bis nach Kamtschatka und von Mexiko bis nach Alaska deutlich wird: Menschen können mit Bären in derselben Kulturlandschaft sehr wohl zusammenleben. Dazu braucht es Regeln, die den Menschen in Regionen, wo es immer Bären gab, vertraut sind. Dazu gehört auch, dass Bären, die sich mehrfach allzu frech den Menschen direkt nähern, abgeschossen werden.
Wir in Mitteleuropa müssen diese Regeln gegenüber dieser beeindruckenden Spezies erst wieder erlernen. Und vielleicht auch wieder mehr Respekt vor der Natur insgesamt: Ist es gerechtfertigt, dass wir den Anspruch erheben, uns zu unserem reinen Vergnügen zu jeder Tages- und Nachtzeit ohne Rücksicht auf andere Waldbewohner in deren Lebensraum bewegen zu können, wo und wie immer es uns passt?
Toller Artikel!
An den Glöckchen.
Witz aus Alaska.
In Alaska ist das Zusammenleben kaum ein Problem. Jeder weiss, dass es eine blöde Idee ist, alleine im Wald zu joggen. Die meisten in Alaska haben mehr Angst vor Elchen. Die sind erstaunlich aggressiv und verursachen weit mehr Todesfälle als Bären. Ich will die Bären wieder bei uns haben. Auch die Wölfe. Meine Frau hat letztens einen bei Gurmels gesehen (sagt sie). Ist doch cool. Nur ein paar Regeln beachten und es passiert gar nix. Wir müssen halt wieder lernen zu teilen. Wälder sind keine Freizeitparks.