Brugg, Mai 1965. Jugendliche sammeln fleissig Hefte ein, die in der Abenddämmerung verbrannt werden sollen. Angeführt wird die Aktion von Lehrer Hans Keller, auch bekannt als «Schundpapst».
Ziel ist die Verbrennung sogenannter Schundliteratur. So soll die Jugend vor dem schlechten Einfluss minderwertiger Literatur bewahrt werden. Auf dem Stapel landen wild durcheinander Micky Maus, Lassie, Fix und Foxi oder die Schweizer Illustrierte, aber auch Hefte wie Der Sonntag oder Leben und Glauben, die sonst nicht zum Schund gezählt wurden.
Alles ist sauber eingefädelt: Die Migros sponsert das Essen, der Verlag Ex Libris bietet «gute Bücher» als Ersatz für die Schundhefte, selbst das Schweizer Fernsehen ist vor Ort.
Die Brugger Aktion ist die Hauptprobe für einen schweizweiten Kampf gegen unsittliche Schriften. Am Nationalfeiertag soll in jedem Kanton ein 1. Augustfeuer aus Schundliteratur entfacht werden, so der Plan einer Arbeitsgruppe aus Vertreterinnen und Vertretern kantonaler Jugendverbände. Auch das Eidgenössische Departement des Innern will dem Schund den Kampf ansagen.
Was Schund überhaupt sei, darüber herrschte seit Beginn der Diskussion Ende des 19. Jahrhunderts keine Einigkeit. Während «Schmutzliteratur» pornografische Texte und Bilder bezeichnete, umfasste «Schundliteratur» alles, was als unsittlich galt, was einen breiten Spielraum zuliess. Dies sorgte sowohl inner- als auch ausserhalb der Sittlichkeitsbewegung von rechts bis links immer wieder für Diskussionen. Umso einiger war man sich dafür in den Schäden, die Schundliteratur Jugendlichen zufügen würde.
Schund zerstöre den Sinn für Wahrheit und Wirklichkeit, verletze die sittlichen Normen, verrohe die Leserschaft und fördere so das Verbrechen – gerade Detektiv- und Räuberromane, deren Leitmotive «Hinterlist, Korruption, Gewalt, Grausamkeit und Mord» seien, so ein Bericht des Bundes 1959. Die Angst vor Jugendkriminalität war dabei eines der häufigsten Argumente gegen die Schundliteratur und blieb es auch, nachdem Statistiken gezeigt hatten, dass die Jugendkriminalität in der Nachkriegszeit tendenziell sank.
Die amerikanischen Comichefte, eingeführt aus Deutschland, erfüllten jedoch den Wunsch nach Jugendliteratur, der von Schweizer Verlagen lange nicht bedient wurde. Wer in der Schweiz ein Nick Carter-Heft ergattern konnte, gab es deshalb unter der Hand weiter. Das Tauschgeschäft blühte. Dass unter den Lesenden «auch Begabte» seien, stellte ein Lehrer überrascht fest, der zugab, früher selbst schon Schundliteratur gelesen zu haben. Trotzdem müsse dem Einhalt geboten werden.
Rechtlich bot das Schweizer Gesetz nur Grundlage zur Beschlagnahmung «unzulässiger Erotika», sogenannter Schmutz-, nicht aber von Schundliteratur. Dies versuchten Sittlichkeitsvereine mehrmals zu ändern. Angespornt durch das deutsche Schund- und Schmutzgesetz von 1926 propagierte in der Schweiz 1931 auch die Arbeitsgemeinschaft zum Schutze der Jugend gegen Schund und Schmutz für einen neuen Artikel im Strafgesetzbuch.
Unvermittelt folgte die Gegenwehr aus der Ecke von Kunstschaffenden, Schriftstellerinnen und Schriftstellern und Verlegerinnen und Verlegern, welche die literarische Kultur der Schweiz und ihre Freiheit bedroht sahen. Die Bundesversammlung verwarf den Gesetzesentwurf schliesslich zugunsten der Handlungs- und Pressefreiheit.
Das Thema war damit jedoch nicht vom Tisch. Zweimal, 1948 und 1959, erfragte der Bund, wie die Kantone gegen Schundliteratur vorgingen. Für Bundesrat Philipp Etter war die «Überflutung mit Schund und Schmutz» eine «Eiterbeule» und ein «Krebsübel» – alte Begriffsverwendungen aus dem medizinisch-hygienischen Diskurs. 1963 richtete Etter deshalb die Dokumentationsstelle für jugend- und volksschädliche Druckerzeugnisse ein.
Diese führte Listen verbotener Schmutz- und Schundliteratur als Grundlage für die Fahndung in den Kantonen. Es war ein Versuch, verbindliche Kriterien zu schaffen. Doch es blieb weiterhin stark umstritten, was als unsittlich oder unzüchtig galt; Verurteilungen aufgrund dieser Listen gab es nur wenige. Die Entscheidungspraxis der Kommission geriet bis 1974 immer mehr in die Kritik und Freiheit gewann in der öffentlichen Meinung immer deutlicher vor Sittlichkeit.
Während der Kampf gegen Schmutzliteratur und Pornografie weitergeführt wurde, ebbte der Kampf gegen die Schundliteratur in den 1960er-Jahren ab. Massgeblichen Wendepunkt stellte dabei die Verbrennungsaktion in Brugg dar. Einige Medien kritisierten die Schundverbrennung heftig und zogen Parallelen zu Bücherverbrennungen während der Zeit des Nationalsozialismus.
Aufgrund der vernichtenden Reaktion der Presse liess der Bundesrat die Beteiligung an der Aktionsgruppe sein und die geplanten kantonalen Verbrennungsaktionen am Nationalfeiertag wurden abgeblasen. Die verpatzte Hauptprobe war nicht der Garant für einen gelungenen Auftritt, sondern der Anfang vom Ende der Schundverbrennung.
Eigentlichist es gar ncht so lange her. Einige hier haben diese Zeit miterlebt.
Kein Wunder brauchte es die 68er Jugendunruhen.