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Krieg herrscht in Syrien, nicht in Hamburg

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Krieg herrscht in Syrien, nicht in Hamburg

10.07.2017, 12:4410.07.2017, 13:43
William Stern
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Am Freitagmorgen wurde in der Bundesrepublik Deutschland gegen das Völkerrecht verstossen. Ohne eine vorgängige Deklaration wurde der Krieg ausgerufen. So zumindest der Tenor in den deutschsprachigen Medien.

«Wie im Krieg»
Spiegel Online
«Bilder wie aus dem Bürgerkrieg»
«Hamburger Abendblatt»
«Attacken, Brände, Chaos: Bürgerkrieg in Hamburg»
Handelsblatt.com
«Hamburg unter Schock: ‹Es war wie im Krieg›»
welt.de

Wenn am Montagmorgen die Rauchschwaden die Elbe hinaufziehen und freie Sicht aufs verlassene Schlachtfeld geben, dann lohnt es sich, nüchtern Bilanz zu ziehen: Mehrere Hundert Polizisten wurden verletzt, eine ungenaue Zahl an Demonstranten wurde verletzt, Dutzende Autos fielen den Flammen zum Opfer, einzelne Geschäfte wurden geplündert, Scheiben eingeschlagen, der Sachschaden beläuft sich vermutlich in der Höhe von mehreren Millionen Euro.

Was es nicht gegeben hat: Tote. Wie in Genua. Wie in Göteborg.

Vielleicht ist das einem glücklichen Zufall geschuldet: Wäre einer der Molotow-Cocktails, mit dem die rücksichtslosen und entfesselten Gewalttäter unter den Demonstranten hantierten, ein bisschen genauer gezielt gewesen, so hätten die Einsatzkräfte nun vielleicht einen Toten zu beklagen. Wäre einer der Polizisten, die am Steuer der Räumungsfahrzeuge sassen, ein bisschen forscher aufs Gas getreten, so hätte möglicherweise ein Demonstrant sein Leben verloren. Nach aktuellem Stand gibt es sieben Schwerverletzte, aber in Lebensgefahr schwebt niemand.

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Was es sehr wohl gegeben hat: Ein Gefühl der Unsicherheit und Angst bei Anwohnern, Touristen, Polizisten und friedlichen Demonstranten. Ein psychologischer Ausnahmezustand angesichts von vermummten Jugendlichen, die brandschatzend durch Altona zogen und von Hundertschaften der SEK, die mit Schnellfeuergewehren und martialischer Ausrüstung durchs Schanzenviertel patrouillierten.

Das reicht aber noch nicht, um den Krieg herbeizuschreiben. Sonst herrschten fast jedes Wochenende in und um Fussballstadien bewaffnete Konflikte. Sonst stünde jeder zweite Polizeieinsatz an der Zürcher Langstrasse an der Schwelle zur Kriegserklärung. Wäre jeder Aufmarsch der Revolutionären Jugend am 1. Mai ein Casus Belli. 

Die Mitglieder des schwarzen Blocks und anderer autonomer Gruppen, die marodierend durch die Hafenstadt gezogen sind, gehören bestraft. Die Härte des Gesetzes werden sie so oder so zu spüren bekommen, die deutsche Justiz ist noch nie gross aufgefallen mit einer Milde gegenüber linksextremen Gewalttätern. Wer nun aber Vergeltungsmassnahmen herbeifantasiert, von Sippenhaft für die gesamte Linke träumt und von «Protestterroristen» schwadroniert, dem fehlt ganz offenbar das Augenmass. Oder, er will die schrecklichen Bilder aus Hamburg für politische Zwecke ausschlachten. Beides ist nicht opportun.

Ebensowenig ist es angebracht, von Krieg zu sprechen.

Krieg passiert in Syrien, wo auch sechs Jahre nach Ausbruch des Konflikts tagtäglich Menschen getötet und verschleppt werden, wo Hunderttausende ihr Obdach verloren haben und zur Flucht gezwungen sind. Wo eine ganze Region in den Strudel von Chaos, Gewalt und politischer Destabilisierung gerissen wurde.

Am G20-Gipfel verkündeten Trump und Putin einen Waffenstillstand für den Südwesten Syriens. Kein Meilenstein, aber ein Schritt in die richtige Richtung, bevor die Friedensgespräche heute Montag in Genf fortgesetzt werden.

Nur hat das unter dem Bann eines imaginären Krieges gar niemand mitbekommen. 

Video: srf

Hamburg im G20-Ausnahmezustand

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Hamburg im G20-Ausnahmezustand
Eine Frau klettert auf ein Einsatzfahrzeug der Polizei und wird mit Pfefferspray behandelt.
quelle: epa/epa / ronny wittek
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133 Kommentare
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Zitronensaft aufbewahren
10.07.2017 13:21registriert Juli 2015
Ein grosses Unrecht rechtfertigt aber kein kleineres Unrecht. Nur weil Syrien schlimmer ist, muss man sich nicht alles bieten lassen. Sonst müsste man sich mit allem abfinden, weil es immer etwas gibt, was noch schlimmer ist. Zum Glück sind wir noch nicht so abgestumpft, dass zuest Leute sterben müssen, befor wir uns wehren.
Schlussendlich handelt es sich um einen organisierten Angriff auf die Souveränität des Staates. Diese Tatsache bleibt bestehen auch wenn man hier noch besserwissern (oder sogar verharmlosen?) kann, dass Syrien schlimmer ist.
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Yippie
10.07.2017 13:05registriert Februar 2016
Je näher ein Brennpunkt geographisch oder kulturell ist umso mehr interessiert uns dieser. Einer meiner ehemaligen Lehrer hat es mal überspitzt ungefähr mit der folgenden Formel ausgedrückt:

1 toter Schweizer = 2 tote Deutsche = 5 tote Europäer = 10 tote Amerikaner = 100 tote Chinesen = 1'000 tote Afrikaner

Dazu kommt dann noch die Aktualität des Ereignisses.
Die Ukraine und Syrien sind z.B. kein grosses Thema mehr (auch bei watson). Uns interessiert viel mehr wie und ob Trump jemandem die Hand schüttelt. Leider ist das so und ich nehme mich da auch gar nicht raus. *AscheübermeinHaupt*
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tinmar
10.07.2017 13:27registriert September 2014
geht nur mir das so ... oder hat dieser Artikel schon was arg relativierendes an sich?
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