«A guilty pleasure» nennt man sowas auf Englisch. Ein Vergnügen mit Gewissensbissen – das ist Eurovision. Wisst ihr, an sich bin ich kein grosser Kommerz-Pop-Fan, hörte nie Hitparade und dergleichen. Ich mag Rock'n'Roll, alten Punk und solches Zeug; Country von grummeligen alten Männern gesungen, Mörderballaden und Kistenweise alter Ska und Reggae. Ich würde jetzt mal behaupten, ich habe einen guten Musikgeschmack.
Und doch versuche ich, wann immer es geht, das alljährliche Eurovisions-Ritual nicht zu verpassen. Und dies, obwohl ich nicht zu den «drei Gs» der Zielgruppe gehöre – bin weder Grosi noch Girlie noch Gay. Aber kaum was macht mehr Spass, als das kollektive Eurovisions-Gucken mit ein paar Kumpeln –, besonders wenn Trinkspiele involviert sind. (Übrigens: Ich empfehle allen, die Sause auf der britischen BBC zu gucken, denn die Kommentare der Moderatoren sind meistens der Brüller.)
Nun also 14 Gründe (12 plus 2 Bonus), weshalb der Song Contest grossartig ist! Nein, Verzeihung, ... war. Denn leider zeigen sich die Beiträge von Jahr zu Jahr in einem immer einheitlicheren ESC-Kleid, wirken zunehmend formelhaft und berechnend. Das ferne Australien etwa, das aufgrund der Scharen ESC-Fans Down Under neuerdings auch mitmischen darf, lieferte vor ein paar Jahren den eurovisionigsten Track ever:
So archetypisch ESC-mässig war «We Got Love» von Jessica Mauboy, dass er dank seiner Windschlüpfrigkeit unbemerkt in die Vergessenheit durchsegeln konnte.
Unvergessen aber bleiben die folgenden Knaller. Deshalb: Welcome, bienvenue, willkommen, benvenuti, bienvenido, xoş gəlmisiniz und hoş geldiniz und dergleichen! Hier kommt The Best of Eurovision!
Boah.
Mit was soll man hier bloss anfangen? Bei den Frisuren der Jungs? Bei den peinlichen Füdliwackel-Dancemoves? Nein, am besten beim wichtigsten Moment der gesamten Eurovisions-Geschichte:
Eigentlich ist dies der ultimativste Eurovisions-Song ever: Der Auftritt ist peinlich ... aber professionell. Die Outfits sind grässlich ... aber zeitgemäss. Und der Track ist oberflächlichster Mitsing-Bubblegum-Pop ... aber letztlich ein gut geschriebener Song.
Es gibt Momente, wo man neidlos zugestehen muss: Da hat jemand alles richtig gemacht. Eurovision 1997 war so ein Moment, als das Publikum Europas nicht drumherum kam, festzustellen, dass «Love Shine a Light» ein verdammt guter Song ist. Ohne Tanz-Firlefanz und ohne blöde Kostüme (okay, die Outfits sind nicht gerade stilvoll), aber mit der selbstsicheren Stimme von Katrina Leskanich. Spätestens beim ersten Refrain wussten alle: Dieser Song wird gewinnen.
Gehen wir zurück in eine Zeit, in der man sich der Wirkung einer gelungenen Fernseh-Inszenierung offenbar nicht so bewusst war! Klein-Gigliola, die zum Zeitpunkt 13 oder 15 oder sowas war, steht in einem schlichten Kleid auf der grossen TV-Bühne und singt ganz alleine ihren Song. Aber was für einer! Ein fetter Refrain, Leute, das macht es aus!
Nicht gerade die grossartigste Vocal-Performance aller Zeiten (und das ist gelinde ausgedrückt), aber ist dieser Serge-Gainsbourg-Track nicht einfach wunderbar?
Aber kehren wir von der grauen Vorzeit wieder zurück in die etwas jüngere Vergangenheit:
Ach, was wurde da ein Bohei um Conchitas Bart gemacht! Dabei gewann sie/er/egal nicht wegen oder trotz ihres Looks, sondern aufgrund der Tatsache, dass dies ein hammerguter Bond-Song ist mit einer grandiosen Vocal-Performance obendrauf. Drama, Baby, Drama!
2014 war ohnehin ein geiles Eurovisions-Jahr. Da gab es beleidigt-empörte Russen, die mit der bärtigen Conchita überfordert waren, währenddessen der Krim-Konflikt auf der ESC-Bühne seine Fortsetzung fand mit einem ukrainischen Janet-Jackson-Verschnitt, der die russischen Olsen-Zwillinge so ziemlich niedermähte. Aber da waren auch gute Songs darunter. Der wunderschöne zweitplatzierte holländische Country-Song etwa. Oder das hier:
Wie alle der Big 5 (Grossbritannien, Italien, Frankreich, Deutschland und Spanien) hatte Emma 2014 ebenfalls keine europäischen Verbündeten, welche ihr Stimmen zuschanzen mochten. Was verdammt schade ist, denn der Song ist perfekter Italo-Rotzgören-Rock mit viel passione und der leisen Vermutung, dass Frau Marrone eine ist, mit der man keine Lämpen will. Ich mag sie.
And now to something completely different:
Jawohl! Wir sind in der Abteilung «Was haben die sich dabei nur gedacht?» angekommen! Obwohl im Falle dieser Karneval-Tanztruppe die Antwort auf die Frage ganz klar feststeht: «Wir schreiben einen Song und kreieren gleich die passende Band dazu – und so gewinnen wir garantiert!» Das war die klare Ansage der Songwriter Ralph Siegel und Bernd Meinunger. Geklappt hat's nicht, dafür aber für grossartige unfreiwillige Komik gesorgt.
Dschingis Khan und seine Komparsen meinten es noch ernst mit ihrem Vorhaben. Nicht so Drag Queen Verka Serduchka. Was. Zum Teufel. Geht hier ab??? Keine Ahnung, aber wenn das keine Stinkefinger gegen die Eurovisions-Tradition ist, dann fress ich ein Paar silberfarbene Bermuda-Shorts.
Ach und apropos Stinkefinger:
Da reklamierte ganz Europa über die angeblich «faulen» Griechen und ihre Schuldenkrise ... und die schickten eine Ska-Punk-Band in Schottenröcken zusammen mit einem Vertreter der alten Rembetiko-Banditenmusik ins Rennen, die ein Sauflied zum Besten gaben. Nimm das, Europa! Genial.
Man muss eine Band, die derart kompromisslos kostümiert in den Kampf zieht, schlicht und einfach respektieren. Ein Leadsänger mit Drachenflügel? Alle anderen haben verloren. Ende der Diskussion.
Und nun nochmals zu etwas ganz Anderem:
Finnland hat Monster. Italien? Nun, irgendwer in der Eurovisions-Findungskommission Italiens sagte wohl: «Ich sag euch, was wir machen: Wir nehmen drei knackige italienische Jungs, mit so richtig, richtig geilen italienischen Tenor-Stimmen, stecken sie in gut sitzende italienische Anzüge und lassen sie einen richtig geilen Kracher singen, der das Wort ‹amore› beinhaltet. So machen wir's!» Korrekte Entscheidung.
So. Und das darf halt nicht fehlen:
Keine Frage, das hier ist ein Kabinettstück von ESC-Grossartigkeit: Gutes Songwriting kombiniert mit den schlimmsten Modesünden der Weltgeschichte. Und, boah, Björn (oder ist es Benny?) – wie geil ist denn deine Stern-Gitarre? Nein, im Ernst: Das ist Pop-Songwriting erster Güte. Dieses Niveau wurde im Song Contest seither nie mehr erreicht.
Und sicher nicht von dem hier:
Hey, irgend einen Schweizer Beitrag musste ich doch reinnehmen, nicht? Lys Assia's «Refrain» ist mir zu antiquiert, DJ Bobos Vampir-Quatsch zu schlecht, das Italienisch von Peter, Sue & Marcs «Io senza te» hat einen grauenhaften Akzent und Céline Dion's Sieger-Song ... öh, wie hiess der überhaupt? Da war diese estnische Girlgroup zumindest unterhaltend. Der Name war zum Brüllen, die Girls ordentlich beflissen und der Song enthielt die Zeile «don't need you to blow my fantasy», was doch immerhin ... naja, damals zumindest fanden wir's lustig.
2013 war diese estnische Punkband am nationalen Wettbewerb für die Eurovisionsteilnahme dabei. Sie wurden Dritte. Schade.