
Sag das doch deinen Freunden!
Schreie und Flüche durchbrechen die Ruhe auf den Gängen. «Renitenter Insasse auf Stock 2 bei der Telefonkabine», sagt eine Stimme durch den Funk. Sofort eilen mehrere Aufseher zu Hilfe. Routiniert bringen sie den schlanken, grossen Mann, der sich nicht beruhigen will, zu seiner Zelle. Darin eskaliert die Situation: Der Insasse wirft den Fernseher zu Boden und schmeisst mit verschiedenen Gegenständen um sich.
Alltag in der geschlossenen Anstalt in Affoltern am Albis. Dem Gefängnis, das mitten im beschaulichen Dorf im Säuliamt liegt. Die Aufseher entscheiden, obwohl Gruppenvollzug herrscht, die Insassen sich also frei auf den Gängen bewegen dürfen, dass alle zurück vor ihre Zellen müssen und die Durchgänge zum Rest des Gefängnisses verriegelt werden. Das beunruhigt viele Häftlinge, einige schlagen gegen die Absperrung, die Gitterstäbe. Sie wollen in den Kraftraum, zum Billard, in den Spazierhof. «Geduld», ruft ein Aufseher. Die Situation ist angespannt.
Im Gefängnis in Affoltern am Albis sitzen 65 Häftlinge ein, 23 Mitarbeiter kümmern sich um diese. Es ist gut ausgelastet, ausschliesslich mit Männern. Da die Anstalten in der Westschweiz permanent überfüllt sind, landen nicht wenige Insassen in Affoltern am Albis. Hier bleiben sie maximal zwei Jahre. Über 90 Prozent sind Ausländer, viele von ihnen werden nach ihrem Gefängnis-Aufenthalt ausgeschafft.
Die Insassen müssen warten, bis das Problem mit dem Randalierer geklärt ist. Vorsichtig, aber bestimmt, packen vier Aufseher diesen und bringen ihn in den untersten Stock zur Arrest-Zelle. Der Mann flucht in allen Sprachen. Italienisch, arabisch, französisch. Auf Deutsch wirft er den Aufsehern «Ich Sklave, ihr Rassisten» an den Kopf. «Bleiben sie ruhig», antworten diese. Vor dem Arrest muss der Aufgebrachte seine Kleidung inklusive Unterhose ausziehen und bekommt einen Trainer sowie ein paar Schlarpen. Er weigert sich. Aufseher Patrick B.* geht mit ihm in die Arrest-Zelle, wo dieser gehorcht. Wenige Sekunden später verschliesst Patrick B. die schwere Türe, der Insasse ist alleine. Alleine in einer Zelle, in der es fast nichts gibt: Wenig Licht, kahle Wände, eine Matratze, eine Decke und ein Kissen. «Jetzt hat er Zeit nachzudenken», sagt Patrick B.
Für die übrigen Insassen steht das Mittagessen auf dem Programm. Heute gibt es Wildmeatballs an grüner Pfeffesauce, Nudeln und ein Gemüse-Mix. Die Küche muss auf vieles achten, verschiedene Speisen kochen für Moslems, für Vegetarier oder Allergiker. Die Türen sind jetzt nicht mehr verschlossen, die Insassen füllen die Gänge. Einige bleiben im Zimmer, andere setzen sich an den Tisch neben Patrick B. zum Essen. Er und seine Kollegen arbeiten durch, verbringen den Mittag bei den Insassen.
Patrick B. kümmert sich seit 17 Jahren um Häftlinge, er hat viele kommen und gehen sehen. Seit kurzem ist er der stellvertretende Leiter der Anstalt. Der 48-Jährige mag seinen Job weil jeder Tag anders sei und er den Kontakt zu den Menschen schätze. «Es sind spezielle Leute, die eingesperrt sind; ihre Schicksale, ihre Geschichten, die machen meinen Beruf aus», sagt er. Aufseher seien nicht zum Strafen da, sie wollten den Insassen helfen. Ein ruhiger, geordneter Tag sei ein guter Tag. Oberstes Kredo sei immer die Sicherheit. Die Aufseher tragen keine Waffen und haben keine Handys bei sich. Sie kommunizieren untereinander mit portablen Telefonen sowie Funk. Kritische Situationen erlebte Patrick B. in all den Jahren vier. Angst hat er aber nie: «Greift mich einer an, schützen mich sieben andere Insassen.» Der Beruf ist heute offiziell anerkannt, die Ausbildung dauert drei Jahre.
Sein Arbeitstag hat um 7.15 Uhr begonnen und um diese Zeit bahnten sich die Probleme mit dem Insassen, der jetzt im Arrest sitzt, bereits an. Beim morgendlichen Rapport versammelt sich täglich die ganze Gefängnisbelegschaft, um einen grossen, massiven Holztisch. «Fatim R.* aus der Zelle 201 machte die ganze Nacht Probleme», sagt der Aufseher, der Nachtschicht hatte. Er habe 11 Mal geklingelt, weil er unbedingt sein Handy haben wollte. Gefängnisleiter Christian Klein nimmt es zur Kenntnis und sagt, er werde heute noch persönlich mit Fatim R. sprechen und ihm ein paar Grundsätze erklären, die es hier einzuhalten gelte.
Klein führt das Gefängnis seit Mai 2015. Bevor er gekommen ist, hatte die Anstalt eine schwierige Zeit. Es gab Ermittlungen wegen Korruption. Eine Mitarbeiterin besorgte den Insassen gegen Geld Hasch, Doping oder Handys. «Ich bin froh, dass ich bei Null anfangen konnte», sagt Klein. Patrick B., einer der wenigen übrig gebliebenen Aufseher, ergänzt: «Das war eine schlimme Zeit, ich ging nicht mehr gerne zur Arbeit.» Mittlerweile herrsche eine ganz andere Kultur.
«Wir arbeiten mit Nähe, bewegen uns unter den Insassen. Dadurch wissen wir, wie die Insassen ticken, was sie beschäftigt» erklärt Klein seine Philosophie. So schaffe er Sicherheit. Die Kultur unterscheidet sich stark zu den anderen Ländern. Dort stehen die Aufseher mit Gewehren am Anschlag auf den Gefängnisdächern. Sicherheit durch Distanz, heisst dort das Motto. Klein stört, dass seine Branche immer nur in den Schlagzeilen ist, wenn etwas nicht stimmt. Deshalb ist ihm Transparenz das Wichtigste. «Wir machen hier keine Hexenverbrennungen, wir haben nichts zu verbergen.»
Ein weiterer, wichtiger Punkt in Affoltern am Albis ist die Selbstverantwortung. «Ich will, dass die Insassen möglichst viel selber denken, selber besorgen müssen – wie draussen in der realen Welt.» Nur so könne man sie darauf vorbereiten. Drei Änderungen hat er bereits umgesetzt:
Im Kraftraum funktionieren die neuen Regeln bisher bestens. Ein kräftiger Serbe trainiert seinen Brustbereich, ein Marokkaner hält sich an der Rudermaschine fit, während sich ein schmächtiger Rumäne mit den Freihanteln beschäftigt. Er hat seine eigene Musik mitgebracht – deutscher HipHop. Unten im Spazierhof drehen mehrere Häftlinge mit hochgezogenen Kapuzen joggend ihre Runden an der frischen Luft.
Einer, der nicht rausgehen mag an diesem Tag heisst Milot V.*. Der kleine, bullige Mann kommt aus dem Fürstentum Liechtenstein. Seine Stärken liegen im Bereich Reden und Beschweren. «Hier drin ist nicht alles so, wie es auf den ersten Blick aussieht», beginnt er. Er sei zu Unrecht hier. Im Auftrag anderer habe er jemanden zusammengeschlagen. Aber: «Die sind nicht im Gefängnis, ich schon, das ist unfair.» Weiter findet er es ungerecht, dass er ausgerechnet jetzt eingesperrt wird. Jetzt, wo er eine Freundin und ein Kind hat. «Endlich habe ich Halt im Leben und dann buchten die mich ein, das geht doch nicht!» Milot V. lässt sich über gewisse Aufseher aus, über die Zweiklassengesellschaft, die hier drinnen herrsche – «Schweizer haben es besser als Ausländer» – und über die Welt ganz allgemein. Patrick B. steht geduldig neben Milot V. Er hört die Anschuldigungen nicht zum ersten Mal. Auch ein Insasse voller Tätowierungen musste die Stories offenbar schon öfter über sich ergehen lassen. Beim Vorbeigehen sagt er: «Hey Milot, erzählst du wieder Räubergeschichten?»
Allgemein sind es immer wieder die selben Geschichten, die den Aufsehern aufgetischt werden. Vor allem, wenn die Insassen etwas wollen. Fatim R., der in die Arrestzelle musste, wollte laut eigenen Angaben unbedingt zu seinem Handy weil dort die Nummer seines Vaters gespeichert sei und dieser krank sei. Handys sind im Gefängnis verboten und müssen beim Eintritt abgegeben werden. Wer eine Nummer aus dem Speicher abschreiben will, muss einen Antrag ausfüllen und darf dies danach nur in Anwesenheit eines Aufsehers tun. Fatim R. wurde dies trotz seines nächtlichem Benehmens bewilligt. Als er danach seine Zeitlimite beim Telefonieren in der Telefonkabine nicht einhielt und ihn ein Aufseher darauf aufmerksam machte, flippte er aus.
Mittlerweile ist es Nachmittag. Die Insassen sind bei der Arbeit. Gefängnisleiter Klein und Patrick B. sitzen im Büro und analysieren den Fall des Arabers Fatim R. «Konntet Ihr die Sauerei in der Zelle schon beseitigen?», fragt Klein. «Ja, sein Zellengenosse hat sich freiwillig gemeldet», antwortet Patrick B. Der Fernseher sei nur leicht beschädigt. «Nach der nächtlichen Aktion und meinem Gespräch mit ihm, das offenbar nichts brachte, schlage ich vor, dass er heute Nacht in der Arrest-Zelle bleibt», sagt Klein. «Danach würde ich ihn zwei Tage in eine Zelle ohne Fernseher verlegen – mit der Aussicht, dass er bei besserem Benehmen wieder in seine Zelle zurück darf, wo er TV schauen kann.» Patrick B. ist einverstanden. Alles, was geschehen ist, alles, was sie beschliessen, wird auf Formularen festgehalten. Auch hier soll alles transparent sein, das helfe beiden Seiten.
Was für in Freiheit lebende nicht allzu schlimm klingt, ist für die Insassen einschneidend: nebst Zigaretten ist der Fernseher für die meisten das Wichtigste. Smartphones sind verboten, es gibt kein Internet, der Alltag ist monoton:
Sind die Insassen bei der Arbeit, kontrollieren die Aufseher stichprobenmässig die Zellen. Sind sie anständig aufgeräumt, das Bett richtig gemacht, sind irgendwo Drogen, Bargeld oder Handys versteckt?. «Ganz verhindern können wir das nie», sagt Patrick B. Illegale Ware kann von Besuchern von aussen reingeschmuggelt werden. Patrick B. und sein Team kontrollieren vor jedem Freigang den Spazierhof, da Komplizen von Insassen immer wieder Unerlaubtes von aussen in den Hof werfen.
Während Patrick B. die Zelle durchsucht, spricht er vom Umgang mit den Insassen. Er behandle jeden gleich, egal ob Pädophiler, Mörder oder Kleinkrimineller. «Ich lese ihre Akten nie, damit ich unvoreingenommen bin». Er erfahre ihre Geschichten, ihre Schicksale sowieso. Mit der Zeit wisse er alles über sie. Umgekehrt wüssten die Insassen auch alles über die Aufseher: «Die erkennen uns am Gang, die können bei geschlossener Türe sagen, wer vor ihrer Zelle vorbeigeht.»
In der Zelle, die Patrick B. durchsucht, stehen Psychologie-Bücher, Früchte, ein Russisch-Deutsch-Duden, ein Kalender mit nackten Frauen hängt an der Wand, Fotos von der Frau und der Tochter des Insassen. Es gibt Tageslicht, die Fenster sind vergittert. Auch wenn in der Schweiz immer wieder der Vorwurf komme, die Gefängnisse seien wie Hotels, sagen alle Aufseher übereinstimmend: «Die wirkliche Strafe, das, was hängen bleibt bei den Insassen, ist der Freiheitsentzug. Selbst mit TV ist eingeschlossen sein in einer solchen Zelle prägend.» An den Wochenenden sind die Insassen von Freitagabend bis Montagmorgen mit Ausnahme einer Stunde Freigang auf dem Spazierhof permanent eingesperrt. Das sind lange, einsame Stunden. Vor allem für Fatim R.
*Namen der Redaktion bekannt / ** aus Sicherheitsgründen nennt watson keine genauen Zeiten