Auf der Taxifahrt zum Heimspiel gegen Norwich erklärt der Fahrer, wie stolz die Stadt Leicester auf sein Fussballteam sei. Nur dieser neue Schweizer, Gökhan Inler, sei ein Fehleinkauf. Er könne sich wohl nicht in England integrieren.
Trotz Angeboten von Schalke 04 und dem Hamburger SV im Winter ist Inler in Leicester geblieben. Aber auch an diesem Tag steht der Captain der Schweizer Nationalmannschaft nicht im Aufgebot. Die Ränge des King Power Stadium, benannt nach dem thailändischen Besitzer Leicesters, füllen sich erst eine Viertelstunde vor dem Kick-off. Dann aber ist die Arena mit 32'000 Zuschauern proppenvoll.
Das Spiel ist intensiv, aber arm an Chancen. Der Schweizer Timm Klose im Norwich-Dress gesteht Leicesters Goalgetter Jamie Vardy keine einzige Torchance zu. Die beiden direkten Konkurrenten Inlers im zentralen Mittelfeld, der Engländer Danny Drinkwater und der Franzose N’Golo Kanté, harmonieren gut. Auf der Bank sitzt als Alternative der in der eigenen Akademie ausgebildete walisische Internationale Andy King. Es sieht bereits nach einem torlosen Unentschieden aus, als in der 89. Minute Flügelspieler Marc Albrighton über rechts scharf zur Mitte flankt. Vardy verpasst am ersten Pfosten, doch der argentinische Joker Leonardo Ulloa drückt den Ball noch über die Linie. Das Stadion kocht.
«We are Leicester City, and we’re top of the League» singen die Fans. Das Team verteidigt damit die Tabellenführung vor Tottenham und Arsenal. Fünf Minuten nach Spielende ist das Stadion praktisch leer. Die Greenkeeper fahren mit den Rasenmähern auf. Auch Inler hat das Stadion verlassen. Nationaltrainer Vladimir Petkovic hatte sich kurzfristig angekündigt, um mit seinem Captain über die unbefriedigende Situation zu reden. Dessen Bilanz nach acht Monaten Leicester ist ernüchternd: 11 Einsätze, davon nur fünf in der Liga. Das Gespräch mit dem Nati-Trainer soll mehrere Stunden gedauert haben. Es geht um die EM.
Am Tag danach herrscht im Leicester Training Ground, dem Trainingszentrum an der Middlesex Road, eine familiäre Atmosphäre. Medien und Fans sind nicht zugelassen. Trotzdem nehmen sich sowohl Inler als auch Trainer Claudio Ranieri kurz Zeit für den Beobachter aus der Schweiz.
Mister Ranieri, warum spielt Inler nicht? «Gökhan ist ein Goldjunge. Sehr professionell und ein seriöser, harter Arbeiter. Aber was soll ich tun? Meine Mannschaft gewinnt und gewinnt. Ich kann jetzt nicht wechseln», gibt der Italiener zur Antwort und zieht dabei entschuldigend die Schultern hoch. In England werde schneller gespielt als in Italien, weniger taktisch.
Zudem habe Inler in seiner Karriere fast immer in einem Dreier- oder Fünfermittelfeld gespielt. «Dies kommt seinen Qualitäten besser entgegen.» Ranieri bestätigt, dass es im Winter Gespräche über einen Wechsel gegeben habe. «Ich habe ihn gefragt. Was willst du machen? Möchtest du wechseln? Ich hätte das verstanden in seiner Lage.»
Ist das nicht, wie wenn man am Kindergeburtstag eingeladen ist, ohne von der Torte essen zu dürfen? «Natürlich ist es hart, immer nur zuschauen zu müssen. Ich muss einfach weiterhin seriös trainieren und dem Trainer zeigen, dass ich bereit bin», sagt der 31-Jährige. Die jetzige Situation sei vergleichbar, wie vor zehn Jahren beim FC Aarau, wo er auch nicht regelmässig berücksichtig worden sei. Jetzt habe er mehr Erfahrung, um damit fertigzuwerden.
Mit dem Beiziehen eines Mentaltrainers versucht Inler, die Vorgänge positiv zu deuten. Es mache keinen Sinn, sich vorzustellen, was passiere, wenn er bis Ende Saison nicht zum Zug komme. Anfang Februar hatten sich der FC Sion und St. Gallen erkundigt. Ein Comeback in der Super League sei aber niemals ein Thema gewesen. «Mein Hier und Jetzt ist Leicester», sagt Inler.
Über den Inhalt des Gesprächs mit Petkovic vom Vorabend will Inler nicht viel preisgeben. Es sei «ein positives Gespräch» gewesen. Die «Tür zur Nati» bleibe weiterhin offen und er, Inler, sei «Teil des Projekts».
Zusicherungen oder gar Garantien habe es von Petkovic jedoch keine gegeben. Im Herbst hatte der Trainer der Schweizer Nationalmannschaft gesagt, es könne zum Problem werden, sollte Inler in Leicester weiter nur auf der Bank sitzen.
Würde eine Nichtberücksichtigung für die EM das Ende seiner Nationalmannschaftskarriere bedeuten? «Für andere vielleicht. Nicht für mich. Ich will dieser Mannschaft, solange ich fit bin, als Captain vorstehen.» Einige Leute würden vergessen, was er der Nationalmannschaft in seinen 89 Länderspielen bisher gegeben habe. Er habe sich damals als 20-Jähriger bewusst für die Schweiz und gegen die Türkei entschieden.
Und auch seine von verschiedener Seite her umstrittene Nomination als Captain rechtfertigt Inler: «Wegen meiner Erfahrung und meiner Fähigkeit, die Secondos in der Mannschaft zu integrieren, wurde ich für dieses Amt bestimmt.» Gökhan Inler versucht, positiv zu bleiben.