Nebel
DE | FR
Schweiz
Kommentar

«079» sexistisch? Nein, nur herzzerreissend romantisch!

079
 Bild: aus dem Videoclip zu «079». via youtube/bakaramusic
Kommentar

Ist «079» sexistisch? Gar nicht, nur herzzerreissend romantisch!

Wir haben uns auf die Spurensuche nach der Motivation hinter dem Song begeben. Sie führt vom Mittelalter über Goethe und Kuno Lauener bis zu «Game of Thrones».
14.08.2018, 18:2804.02.2019, 10:00
Simone Meier
Folge mir
Mehr «Schweiz»

Der Mann an sich und ich – ihr wisst, wir liegen eher selten im selben Bett. Aber jetzt schon! Gut, «079» von Lo & Leduc hab ich erst vor wenigen Tagen überhaupt bewusst gehört, 21 Wochen Nummer eins hin oder her. Ich war sehr angetan. Keinen Moment lang wär mir in den Sinn gekommen, das kleine herzige Lied sexistisch zu finden. Vielmehr eröffneten sich für mich da 3 Minuten und 23 Sekunden Romantik in Reinstkultur, wie ich es schon lang nicht mehr gehört habe. Quasi ein winziges romantisches Manifest. 

Romantik ist nämlich nicht dieses von Rosamunde Pilcher erfundene Gewaber aus glücklich endenden Liebesgeschichten auf idyllischen Landsitzen in Cornwall. Wahre Romantik heisst, dass die oder der Angebetete eben gerade nicht erreicht werden kann. Dass es unter seiner oder ihrer Herzensnummer quasi keinen Anschluss gibt. Dass die Sehnsucht unerfüllt bleiben muss. Und in der Ausweglosigkeit endet. Wie in «079». Projektion ist alles. Träume. Ferne Verehrung.

079
Bild: via youtube/bakaramusic

Begonnen hat der Kult um die unerfüllt bleibende Liebe in unseren Breitengraden beim mittelalterlichen Minnesänger. Er sang jahrelang Liebeslieder für eine Frau, wenn ihr gefiel, was er sang, schenkte sie ihm ein kleines Liebespfand, ein Stück ihres Kleids zum Beispiel, und er war ihr noch mehr verfallen. So ungefähr ist es überliefert, die Lieder, die dabei entstanden, sind noch immer wunderschön. In Frankreich nannte man Minnesänger Troubadoure. So wie man lange in Bern die Mundartsänger Troubadoure nannte. Mani Matter war der berühmteste unter ihnen. Berner Bands wie Züri West, Patent Ochsner und Lo & Leduc stehen klar in Matters Nachfolge.

Die grössten Werke der Weltliteratur handeln von der Liebe. Die schönsten unter diesen sind wiederum hoffnungslos romantisch. Romeo und Julia werden von ihren verfeindeten Familien keine Zukunft gegeben und sie bringen sich um. Goethes «Werther» erschiesst sich aus Liebe zu einer unerreichbaren Hausfrau. In Emily Brontës «Sturmhöhe» verzehren sich die reiche Catherine und der arme Heathcliff so heftig nacheinander, bis Gewalt und Tod sie auf immer scheiden.

«079» von Lo & Leduc

In «Madame Bovary» von Flaubert vergiftet sich Emma Bovary weil sich eine Liebesgeschichte nicht so entwickelt, wie sie sich das vorgestellt hat. In «Tristan und Isolde» (ein mittelalterlicher Roman und eine Wagner-Oper) verliebt sich Tristan in die Frau seines Königs – und sie sich in ihn –, die beiden haben keine Chance, je miteinander glücklich zu werden, aber auf ihren Gräbern wachsen eine Rebe und ein Rosenstock und verschlingen sich ineinander. 

In «I schänke dir mis Härz» von Züri West kann Kuno Lauener nicht mit einer Prostituierten zusammen kommen, weil er kein Geld hat (gut, man könnte sich jetzt fragen, ob es nicht etwas sexistisch ist, einer Frau, die mit dem Liebemachen ihr Geld verdient, nichts ausser seinem Herzen anzubieten ... aber das fragen wir uns jetzt nicht).

079
Bild: via youtube/bakaramusic

Und in «079» verliebt sich eben ein junger Mann in eine Frauenstimme von der Auskunft und beschliesst, Jahre seines Lebens daran zu geben, sie zu finden. Wie eine hochmütige Prinzessin im Märchen stellt ihm die Stimme eine schier unmögliche Aufgabe. Sagt nicht einfach «nein», sondern «du weisch immer na nüt». So wie Igrid in «Game of Thrones» vor dem ersten Sex zu Jon Snow sagte: «You know nothing Jon Snow.»

Sie suggeriert ihm, dass er irgendwann später etwas wissen könnte. Aber was? Die Wahrheit über sie? Über sich selbst? Und überhaupt: Wer ist sie eigentlich? Könnten sie überhaupt irgendwas miteinander anfangen, wenn sie sich denn einmal sehen würden? All das spielt für ihn keine Rolle. Es zählt das Werben, die Suche, die Kultivierung der Sehnsucht wider alle Regeln einer emotionalen und zeitlichen Vernunft.

079
Bild: youtube/bakaramusic

Klar kann man jetzt sagen: creepy Stalker! Aber dann könnte man auch gleich all die genannten Romane vergessen, all die tragischen Helden und Heldinnen. Es geht hier ja um ein Stück reinster Fiktion, um ein Genre, das von Lo & Leduc ganz konsequent durchexerziert wird: Im Moment, als die Verehrte nach jahrelangen Fehlversuchen endlich abnimmt, darf es, nach den Regeln der Romantik, nicht zur Erfüllung kommen. Statt dessen kommt das Tram und überfährt den telefonischen Minnesänger. Das ist, mit Verlaub, ziemlich gross.

Das Video vom massiven Brückeneinsturz in Genua

Video: watson

Bibliothek watson: Das sind die Lieblingsbücher der Redaktion

1 / 14
Bibliothek watson: Das sind die Lieblingsbücher der Redaktion
Die Geschichte eines Fälschers im 19. Jahrhundert zeigt sehr eindrücklich, wie der Antisemitismus in Europa entstand.
Auf Facebook teilenAuf X teilen
DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet um die Zahlung abzuschliessen)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
81 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Barsukas
14.08.2018 18:34registriert Dezember 2014
Vielen Dank, Simone Meier. Sie sprechen mir aus dem Herzen.
Walter von der Vogelweide
24332
Melden
Zum Kommentar
avatar
Madison Pierce
14.08.2018 18:40registriert September 2015
Im Grundsatz bin ich einverstanden, aber zwei Blödelsänger mit Stimmverzerrern als Nachfolger von Mani Matter zu sehen geht schon sehr weit.
427302
Melden
Zum Kommentar
avatar
Randen
14.08.2018 21:18registriert März 2014
Wenn einem Mann eine Frau gefällt sollte er einen Brief schreiben. So neutral wie möglich sein Interesse bekunden und sehr neutral begründen. Am besten lässt man das Schreiben von einer Rechtsberatung überprüfen und von einem Notar oder einer Notarin beglaubigen. Eine Datenschutzerklärung sollte selbstverständlich beigefügt werden. Solange die Frau nicht antwortet muss der Interessensbekundigte jede Begegnung vermeiden. Also vielleicht für immer.
12317
Melden
Zum Kommentar
81
Wie der Tod von Kuh Tamina zu einem Sieg des Bauernverbands gegen die SVP führte
Wer Plastikflaschen, Aludosen oder Zigarettenstummel achtlos liegen lässt oder wegwirft, wird künftig gebüsst – und zwar in der ganzen Schweiz. Bis zu 300 Franken wird Littering kosten. Damit setzen die Bauern ein lang gewünschtes Anliegen durch.

Glassplitter, Plastik- oder Alureste. Welcher Abfall Tamina, die einst schönste Kuh von Konolfingen BE umgebracht hat, wird ungeklärt bleiben, wie die Fachzeitung «Schweizer Bauer» schreibt. Ein Fremdkörper gelangte in das Tierfutter, das Tamina frass. In ihrem Bauch bildete sich ein Abszess. Sie wurde so krank, dass ihr Besitzer sie schlachten musste. Das war 2019.

Zur Story