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Putin erobert Mariupol – doch die russische Kritik wird immer lauter

epa09952366 A handout still image taken from a handout video made available by the Russian Defence Ministry's press service shows Russian soldiers frisking Ukrainian servicemen as they are being  ...
Russische Soldaten durchsuchen ukrainische Kämpfer beim Stahlwerk Asowstal in Mariupol.Bild: keystone

Putin erobert die bisher grösste Stadt – doch jetzt wird es richtig brenzlig für ihn

Die russische Armee hat die bisher grösste Stadt erobert. Doch ihre Aussichten werden immer schlechter. Ein prominenter militärischer Anführer der Russen hat die Operation im Donbas bereits für «fehlgeschlagen» erklärt.
18.05.2022, 04:5219.05.2022, 05:22
Corsin Manser
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Die Kämpfe um Mariupol scheinen vorerst beendet. Am Montag wurden über 200 ukrainische Soldaten aus dem Asowstal-Stahlwerk evakuiert, wo sich der Widerstand wochenlang verschanzte. Noch befänden sich mehrere Hundert Kämpfer im Stahlwerk, doch auch sie sollen gemäss ukrainischem Militär evakuiert werden.

Mit der Eroberung Mariupols kann Wladimir Putin einen symbolischen Erfolg feiern. Seine Armee konnte damit eine Landbrücke zwischen Russland und der Halbinsel Krim herstellen. Die Hafenstadt, mit seinen ehemals 440'000 Einwohnern ist zudem die grösste Stadt, welche die russischen Truppen in diesem Krieg einnehmen konnten. Sie könnte bei zukünftigen Friedensverhandlungen als Faustpfand dienen.

Durch die Landbrücke dürften sich die Russen Vorteile bei der Versorgung der Krim erhoffen. Zudem sollen sie daran arbeiten, den Hafen Mariupols wiederzueröffnen, wie das Institute for the Study of War (ISW) schreibt. Noch diesen Monat soll der Hafen entmint und wieder in Betrieb genommen werden.

Feierlaune dürfte im Kreml jedoch kaum aufkommen. Und zwar aus folgenden 3 Gründen:

Hoher Preis für Sieg in Mariupol

Inwiefern Mariupol Putin langfristig nutzen wird, bleibt abzuwarten. Die russische Armee hat die Stadt mit seinen Bombardements dem Erdboden gleich gemacht. Viele Menschen sind geflüchtet. Diejenigen, die geblieben sind, dürften zumindest teilweise zivilen Widerstand gegen die Okkupanten leisten. Dies zeigen die Erfahrungen aus der besetzten Stadt Cherson.

Auch einzelne Angriffe auf das russische Militär sind denkbar. So wurde etwa im besetzten Novoazovsk vor kurzem ein russischer Panzer in die Luft gejagt. Das Video der Explosion ging viral, da der Panzerturm Dutzende Meter in die Höhe geschleudert wurde.

Russischer Panzer explodiert bei Novoazovsk:

Video: watson

Die Russen betrieben einen immensen Aufwand, um Mariupol unter Kontrolle zu bringen. Sie verloren dabei nicht nur viele Soldaten und Material. Sie konnten die in Mariupol stationierten Truppen auch nicht anderswo einsetzen. Deshalb feiern die Ukrainer nun auch die Widerstandskämpfer von Asowstal. «Dank der Verteidiger von Mariupol haben wir kritisch wichtige Zeit für die Formierung von Reserven, eine Kräfteumgruppierung und den Erhalt von Hilfe von unseren Partnern erhalten», schrieb Vize-Verteidigungsministerin Hanna Maljar auf Facebook.

Keine Fortschritte an der Front

Der Erfolg der russischen Armee in Mariupol ist im Moment viel mehr eine Ausnahme als die Regel. Denn ansonsten läuft es ihr gar nicht rund. Im Norden der Frontlinie konnten ukrainische Streitkräfte die russischen Truppen bis zur Grenze zurückdrängen. Können die Ukrainer noch mehr Boden gut machen, ist die Versorgung der Russen von Belgorod in den Donbas in Gefahr.

Ukrainian servicemen take rest in a recently retaken village north of Kharkiv, east Ukraine, Sunday, May 15, 2022. (AP Photo/Mstyslav Chernov)
Ukrainische Soldaten konnten ihren Gegner bei Charkiw mit einer Konter-Offensive bis zur Grenze zurückdrängen.Bild: keystone

Südlich von Charkiw toben derzeit die heftigsten Kämpfe. DieRussen kamen dabei in den vergangenen Wochen nur schleppend oder gar nicht voran. Nun stuften sie ihre Ziele abermals zurück, wie der britische Militär-Experte Michael Clarke auf Sky News erklärte.

Demnach wollten die russischen Streitkräfte zunächst die Achse Charkiw-Mariupol kontrollieren. Als dies unrealistisch wurde, planten sie, von Isjum bis nach Donezk vorzustossen. Doch auch dieser Plan scheiterte. In den vergangenen Stunden verschoben die Russen ihre Kräfte deshalb noch weiter in den Osten, um die Städte Sjewjerodonezk und Svitlodarsk zu erobern.

Die russische Armee muss ihre Ziele laufend zurückstecken.

Ob es den Russen gelingt, ihre stark zurückgesteckten Ziele zu erreichen, bleibt ungewiss. Vor einer Woche versuchten sie bei Sjewjerodonezk den Fluss Siwerskyj Donez zu überqueren und erlebten dabei ein veritables Fiasko. Hunderte Soldaten verloren nach ukrainischem Beschuss ihr Leben, dutzende Panzer und Fahrzeuge wurden zerstört.

Innerrussische Kritik

Das Desaster am Siwerskyj Donez hat zur Folge, dass nun innerrusische Kritik an der militärischen Führung laut wird. «Wenn die gleichen Probleme drei Monate lang andauern und sich nichts zu ändern scheint, dann fange ich persönlich und Millionen von Bürgern der Russischen Föderation an, Fragen an die Leiter der Militäroperation zu stellen», schrieb der prominente Militär-Blogger Juri Podoliaka auf Telegram. Weitere Blogger schlugen ähnliche Töne an.

Sie sind mit ihrer Kritik nicht alleine. Er müsse mit Bedauern feststellen, dass die Operation, die gegnerischen Donezk-Truppen zu besiegen, «fehlgeschlagen» sei, schrieb am 16. Mai Igor Girkin auf Telegram. Man habe keine grössere Stadt erobert. Girkin ist international zur Verhaftung ausgeschrieben im Zusammenhang mit dem Abschuss des Malaysia-Airline-Fluges. Der Russe ist einer der militärischen Führer der separatistischen Volksrepublik Donezk. Gegenüber seinen 360'000 Followern nimmt er kein Blatt vor den Mund:

«Vielleicht erreichen wir einige lokale, taktische Erfolge, bevor der Gegner mit Gegenoffensiven zurückschlägt. Aber jetzt ist klar – bis im Frühsommer wird der Donbas nicht vollständig befreit sein.» Das komme nicht mal unerwartet für ihn, so Girkin weiter. «Im Gegenteil.» Die Kunst des Krieges sei es, dort zuzuschlagen, wo es der Gegner nicht erwarte. Die Absicht der russischen Befehlshaber sei aber immer offensichtlich gewesen. «Im Moment kämpfen unsere Truppen in anstrengenden, offensiven Schlachten und müssen dabei nach den ‹Regeln des Gegners› spielen.»

«Ich beschuldige Sergej Schoigu direkt mindestens der kriminellen Fahrlässigkeit»
Igor Girkin

Bereits vergangene Woche sparte Girkin nicht mit Kritik. Er machte Verteidigungsminister Sergej Schoigu wegen der ausbleibenden Erfolge schwere Vorwürfe. «Ich beschuldige Sergej Schoigu direkt mindestens der kriminellen Fahrlässigkeit», sagte Girkin in einem Videointerview, das er auf Telegram veröffentlichte.

Das Narrativ des Kremls, wonach in der Ukraine «alles nach Plan läuft», beginnt immer mehr zu bröckeln. Sogar im russischen Staats-Fernsehen. Dort sagte der Militär-Stratege Michail Chodarenok: «Die Lage wird schlechter für uns.» Die Putin-Propagandisten hatten sichtlich Mühe, dagegenzuhalten.

Wenn also der ukrainische Geheimdienst-Chef, Kyrylo Budanow, in einem Sky-News-Interview sagt, die Ukraine werde den Krieg Ende des Jahres gewonnen haben und es sei ein Putsch-Versuch gegen Putin im Gange, der nicht gestoppt werden könne, dann klingt dies aktuell gar nicht mehr so unrealistisch. Die kommenden Wochen dürften für Putin jedenfalls äusserst brenzlig werden.

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93 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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stegiKnüller
18.05.2022 05:27registriert Dezember 2020
der Sieg der Ukrainerinnen und Ukrainer scheint näher zu kommen. wenn auch unter Blut, Tränen und unglaublichen Verlusten. bleibt stark und widerstandsfähig. Alles Gute.
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Haarspalter
18.05.2022 06:16registriert Oktober 2020
Igor Girkin «Ich beschuldige Sergej Schoigu direkt mindestens der kriminellen Fahrlässigkeit»

Die kriminellen russischen Schurken beginnen also damit, sich gegenseitig zu bekämpfen.

Gut so. Russlands Verbrecherregime bröckelt.
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WatsOnMyAss
18.05.2022 05:57registriert März 2022
Der internationale Haftbefehl für Girkin scheint sich ja bald zu erübrigen wenn er noch ein bisschen mehr gegen seine mörderischen Helfershelfer rumlästert.
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