Ich bin jetzt in einem Alter, wo ich nicht nur auf einen oder zwei, sondern auf mehrere runde Geburtstage und Jahrzehnte zurück blicken kann. Ab und zu schaue ich mir die alten Fotos an, die zu den Lebensgefühlen von früher gehören. Immer wieder denke ich dabei: «Aha?!? Wieso hat mir eigentlich niemand gesagt, dass ich mit 23 oder 32 objektiv gut bis sehr gut ausgesehen habe?»
Das ist natürlich die komplett falsche Frage. Es wurde mir schon gesagt. Eigentlich sogar oft. Von Frauen und Männern. Menschen, die ganz nah bei mir waren und solchen, die weiter weg waren. Habe ich ihnen geglaubt? Glaube ich ihnen, wenn sie es heute sagen? Sicher nicht! Den Nahestehenden nicht, weil die sowieso immer nett sind. Den andern nicht, weil sie sich sicher irgendwas davon versprechen. Dass ich einen Artikel über sie schreibe oder so.
Ein Beispiel: Mit 28, als mir besonders viele garantiert nicht vertrauenswürdigen Leute Komplimente machten, fand ich meine Oberschenkel so hässlich, dass ich zum Schönheitschirurgen ging. Mit sowas wie Bodypositivity hätte mir damals niemand kommen müssen. Ich schaute mich im Spiegel an und mir war elend. Ich hasste mich. Der Arzt machte Polaroids, von vorne, von hinten, er mischte die Bilder unter mehrere Dutzend anderer von andern Frauen, sagte: «Das hier sind Sie. Schon ein schwerer Fall.» Noch nie in meinem Leben fühlte ich mich so sehr gedemütigt.
Sagt jetzt bitte nicht: Frau Meier, weil du das alles nicht bist! Das zählt nicht! Und das hab ich mir schon oft genug gesagt. Nur um dann eben mit etwas Distanz zu sehen: Stimmt gar nicht. Doch im Moment, da ich in einen Spiegel schaue, hilft dieser Erfahrungswert nichts. Da seh ich nur Bildstörung. Ein Kaleidoskop der Unvollkommenheit. Details, die sich niemals zu einem zufriedenstellenden Ganzen finden können.
Aber nehme ich andere auch so wahr? Natürlich nicht. Schliesslich erwarte ich von niemandem Annäherungen an Perfektion ausser von mir. Okay und von Leuten, die damit ihr Geld verdienen, Models zum Beispiel. Obwohl – gefallen mir die dann? Fallen die auf? Nein, tun sie nicht. Weil sie so langweilig sind, dass sie nicht ins Auge stechen. Aber solche mit einer Unregelmässigkeit fallen auf, sind interessant. Die Nase von Gisele Bündchen. Die Lippen von Nadine Strittmatter. Tamy Glausers Androgynität. Sowas ätzt sich in die Netzhaut, sowas vergisst man nicht.
Und meine ganz normalen Mitmenschen? Sehe ich die auch als wären sie ein Pixelwerk aus lauter Fehlern? Natürlich nicht! So gut wie alle von ihnen besitzen Unvollkommenheiten. Aber mein Auge fügt alles zu einem Ensemble zusammen. Es mag einen Makel geben, aber alles andere lenkt davon ab. Er ist nicht das Zentrum. Das Ganze ist das Zentrum. Wie wenn ich einen Garten ansehe, und da steht ein hässlicher Blumenkübel. Der Garten selbst ist dadurch noch lange nicht hässlich. Der Blumenkübel ist vollkommen egal, vielleicht ja sogar vorteilhaft, weil alles andere neben ihm umso mehr glänzt.
Meine Sicht auf die andern ist ausgeglichen und ausgleichend. Gerade schaue ich mich in unserer Redaktion um und denke: Wow, hab ich schon so viele gut aussehende Menschen auf einem Haufen gesehen? Mit Ausnahme von mir natürlich? Meine Sicht auf mich ist selektiv und partikulär. Das grosse Ganze nehme ich nicht wahr, weil es mir so vertraut ist, dass ich es ignoriere.
Man muss schon ziemlich selbstbewusst sein, damit man sich selbst nicht in einer Differenz zu einem Ideal wahrnimmt. Auch wenn ein Ideal immer etwas Fabriziertes, Gefiltertes, Geschöntes ist, sonst wäre es ja kein Ideal. Mir fehlt dieses Selbstbewusstsein. Immer schon. Immer mal wieder. Wahrscheinlich bin ich darin eine von Millionen. Und ich bin froh, nicht heute jung zu sein, Instagram würde mir zusetzen, schon jetzt schnauze ich Freunde manchmal an und sag: «Ich hab gesagt, Selfieperspektive! Mach gefälligst ein Foto von mir mit Selfieperspektive!» Was natürlich Quatsch ist. Wie so vieles.
Etwas aber ist kein Quatsch, glaubt's mir, liebe Kinder, die ihr verzweifelt vor dem Spiegel steht, weil der Mensch nun mal zum Zweifeln geboren ist – er wär ja schon ein reines Arschloch und nichts ist hässlicher als ein Arschloch: Wenn ihr wie ich mal auf euch zurückschaut, werdet ihr euch fragen, wieso ihr früher kein entspannteres Verhältnis zu euch selbst hattet. Wieso ihr euch nie gefallen und niemandem das Gegenteil geglaubt habt. Mit grosser Wahrscheinlichkeit war dieses nämlich für einmal nichts als die Wahrheit. Und weil dem ganz objektiv so war, dürft ihr ruhig davon ausgehen, dass es auch jetzt und heute noch gilt. Und ihr schön seid.
PS: Für die Schönheit unters Messer gelegt hab ich mich nie. Mein schönster schwuler Freund sagte: «Spinnst du? Von dem Geld machst du zwei Weltreisen! Ab ins Hallenbad, wir gehen jetzt ein paar Kilometer schwimmen!» Er hatte recht. Und die Sache mit dem Sport (nur ein bisschen natürlich) hat meinem «Fall» etliches von seiner Schwere genommen.