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Jugendheim–Direktor: «Faszination für Gewalt nimmt zu»

Die Faszination für Gewalt nimmt wieder zu. (Symbolbild)
Die Faszination für Gewalt nimmt wieder zu. (Symbolbild)Bild: shutterstock

«Faszination für Gewalt nimmt wieder zu»: Ein Jugendheim–Direktor nennt die Gründe

Nach 125 Jahren steht das Jugendheim Aarburg, die Festung, vor einer Weichenstellung. Direktor Hans Peter Neuenschwander erklärt die Gründe dafür und warum einige Eltern mit der Erziehung überfordert sind.
02.12.2018, 02:43
Joël Widmer / Schweiz am Wochenende
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Im Innenhof der Aarburger Festung montieren und dekorieren einige Jugendliche die Marktstände für den Weihnachtsbazar. Auf dem Weg in die geschlossene Abteilung legt Jugendheimdirektor Hans Peter Neuenschwander bei einer der vielen vergitterten Pforten den Finger auf das biometrische Einlesegerät.

Das System erkennt ihn nicht, zumindest nicht beim ersten Mal. Als ob das System dem von einer Grippe etwas geschwächten Direktor sagen wollte: Geh in dieser Verfassung nicht zu den schweren Jungs. Die geschlossene Abteilung für straffällige Jugendliche gleicht einem Gefängnis. Zurzeit sitzen dort neben anderen Jugendlichen einige Eritreer. Die Afrikaner haben laut Neuenschwander die Jungs vom Balkan etwas abgelöst.

Ist seit 30 Jahren auf der Festung und öffnet am Samstag den Innenhof für den Weihnachtsbazar: Jugendheim-Direktor Hans Peter Neuenschwander.
Ist seit 30 Jahren auf der Festung und öffnet am Samstag den Innenhof für den Weihnachtsbazar: Jugendheim-Direktor Hans Peter Neuenschwander.Bild: zvg ch media

Ein Junge hat gerade Stunk mit den Betreuern. Zuerst will er den Direktor gar nicht grüssen, schaut demonstrativ weg, blafft einen Betreuer an und trottet dann davon. Doch einige Minuten später streckt er vom vollvergitterten Raucherbalkon den Kopf durch die Türe rein und beschwert sich bei Neuenschwander in einem anständigen Ton. Er sei zu lange im Zimmer eingesperrt gewesen. Der Direktor nimmt die Klage entgegen und verspricht, mit dem Betreuer zu sprechen. Dann geht der Junge zurück auf dem Balkon – und raucht seine Zigarette zu Ende.

In dieser Abteilung wirkt das Jugendheim mit den dicken Gitterstäben und schweren Türen noch ein wenig so, wie man sich jenes Heim vorstellt, das hier vor 125 Jahren gegründet wurde: die Zwangserziehungsanstalt für jugendliche Verbrecher und Taugenichtse.

Doch die geschlossene Abteilung könnte bald anders aussehen. Denn die Betreuung ist wegen der verwinkelten Gebäude sehr personalintensiv. Und vor wenigen Jahren gab es gewalttätige Vorfälle, die unter anderem zu einem Ausbruch geführt haben.

Wenige Junge machen Lehre

In den nächsten Wochen beginnt nun der Kanton Aargau mit einer Evaluation des Jugendheims. Grund dafür ist auch ein Vorstoss der Aarburger Gross- und Gemeinderätin Martina Bircher (SVP). Sie findet das Jugendheim zu teuer und will, dass man die Festung anderweitig nutzt. Aktuell kostet ein Platz für einen Jugendlichen pro Tag rund 516 Franken. Laut Neuenschwander stehen für die Analyse vier Möglichkeiten im Raum: Weiter wie bisher, nur die geschlossene Abteilung auslagern, das ganze Heim zügeln – oder das Heim ganz schliessen.

Martina Bircher
Martina BircherBild: screenshot srf dok «dich macht des volkes»

Doch schon vor diesem politischen Vorstoss befand sich das Jugendheim in einem Umbruch. Die Zuweisungen haben sich von strafrechtlichen hin zu zivilrechtlichen, von den Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) verordneten Massnahmen verlagert. 2012 zählte das Heim laut Neuenschwander noch 90 Prozent strafrechtliche Massnahmen. Doch seither habe diese Zahl um über 50 Prozent abgenommen. «Die Jugendanwaltschaft stimmt heute ihre Massnahmen auf die von der KESB schon verordneten ab», sagt Neuenschwander.

Das führt dazu, dass immer weniger Jugendliche auf der Festung ihre Lehre abschliessen. Denn während die strafrechtlichen Massnahmen bis zum 25. Altersjahr dauern können, enden die zivilrechtlichen oft mit der Volljährigkeit. «Es kommt vor, dass Jugendliche keinen Lehrvertrag abschliessen wollen, weil sie mit 18 Jahren raus wollen.»

Es sei heute schwieriger sicherzustellen, dass eine Massnahme auch greift. «Wir versuchen dennoch mit allen Jugendlichen beim Austritt die Arbeits- und Wohnsituation zu regeln.» Und das Jugendheim hat unterhalb des Niveaus zum eidgenössischen Berufsattest einen neuen Ausbildungsgang angesiedelt, den Kompaktlehrgang mit individuellem Kompetenznachweis. Damit können Jugendliche in einem Beruf zumindest einen individuellen Leistungsnachweis erlangen.

Der Kampf gegen die Kesb:

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Der Kampf gegen die Kesb
Anfang 2015 geschieht in Flaach ZH das Unfassbare: Natalie K. erstickt ihre beiden Kinder im Alter von zwei und fünf Jahren. Die 27-Jährige durfte ihre Kinder, die sich in der Obhut der Kesb befanden, über die Weihnachtstage bei sich haben. In der Folge gerät die Kinder -und Erwachsenenschutzbehörde Kesb ins Kreuzfeuer der Kritik.
quelle: keystone / walter bieri
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Richtige Entwicklung

Neuenschwander findet die Entwicklung hin zur KESB dennoch richtig. «Früher mussten die Jugendanwaltschaften oft fehlende zivilrechtliche Massnahmen korrigieren.» Und mit den KESB hätten sie nun auch bessere Ansprechpartner, um die Entwicklung der Jugendlichen gut zu fördern.

Derzeit ist das Jugendheim nicht ganz ausgelastet. 2018 waren im Schnitt nur 36 von 41 Plätzen belegt. Grund dafür sind unter anderem geburtenschwache Jahrgänge – und das Smartphone. «In den letzten Jahren haben in ganz Europa Smartphones und soziale Medien zu einem Rückgang der Jugendkriminalität geführt», sagt Neuenschwander. Bekanntschaften würden vermehrt im digitalen Raum gepflegt. «Die Jungen treffen sich weniger an Hotspots, wo sie nach dem Konsum von Alkohol beginnen, zu delinquieren.»

Da aber nichts so dynamisch sei wie die Jugendszene, gehe der Effekt schon wieder zurück. «Man stellt auch fest, dass bei jungen Männern die Faszination für Gewalt wieder zunimmt.» Die Arbeit im Jugendheim wurde in den letzten Jahren laut Neuenschwander auch komplexer: «Fast jeder Jugendliche erhält heute eine psychiatrische Diagnose und eine therapeutische Begleitung.» Deshalb würden auch die Mitarbeitenden in den Betrieben besser ausgebildet: in jedem Betrieb arbeite mindestens ein Arbeitsagoge.

Angriff auf die Kesb – Kritiker lancieren Volksinitiative:

Video: srf

Eltern setzen keine Grenzen

«Noch vor zehn Jahren wollten die Jugendlichen einfach chrampfen; heute suchen sie die therapeutische Begleitung.» Neuenschwander, der schon 30 Jahre im Jugendheim arbeitet – seit 2005 als Direktor –, hat da eine persönliche Analyse: «Wir sind eine Gesellschaft geworden, in der zunehmend die männlichen Vorbilder fehlen, insbesondere in den pädagogischen Berufen.»

Dazu komme eine Überforderung der Eltern; durch den Verlust von verbindlichen Werten und zunehmende Freizeitzwänge verlieren die Eltern ihre Orientierung. Diese Überforderung habe zugenommen. «Es gibt da einen Trend zum Ich», sagt Neuenschwander. Leute mit Problemen würden zuerst zu sich selbst schauen. «Und da kann ein Kind auf der Strecke bleiben.»

Ein anderes neues Phänomen seien Familien, in denen die Hierarchie auf den Kopf gestellt sei. «Die Kinder stehen zu sehr im Zentrum und die Eltern getrauen sich nicht, Grenzen zu setzen.» Im Extremfall führe das dazu, dass ein Jugendlicher völlig austicke, wenn er nur das Wort Nein höre. Dann landet er vielleicht im Jugendheim auf der Festung. Aber nicht zwingend in der geschlossenen Abteilung. Vielleicht zieht er auch in ein neu renoviertes Zimmer der Trainingsgruppe ein. «Wir versuchen dann die Stärken des Jugendlichen zu finden», sagt Neuenschwander. «Denn jeder Mensch hat die Motivation, etwas aus seinem Leben zu machen.» (aargauerzeitung.ch)

Um 7.15 Uhr geht das Zimmer auf, um 22 Uhr ist Feierabend
Das Jugendheim bietet 41 Plätze für männliche Jugendliche an, die eine stationäre Massnahme oder Tagesstruktur benötigen und in der Regel verhaltensauffällig sind. Konkrete Beispiele: aggressives und gewalttätiges Verhalten, Delinquenz, Renitenz, Ausreissen, Schul- und Lernschwierigkeiten, fehlende Arbeitstugenden und -moral, Perspektivlosigkeit oder Suchtmittelkonsum. Das Heim umfasst verschiedene Gruppen: Die geschlossene Abteilung (8 Plätze), eine Gruppe für Schulabschluss und Berufsvorbereitung (8 Plätze), Wohngruppen mit dem Ziel Berufsbildung (15 Plätze) und eine Bewährungsgruppe (10 Plätze).

Nachfolgend einige Auszüge aus dem pädagogischen Konzept am Beispiel der geschlossenen Wohngruppe:

Zu Beginn des Aufenthalts sind die Jugendlichen mehrheitlich fremdbestimmt. Dann können sie durch Bestehen von Programmwochen zunehmend wieder selbst Verantwortung übernehmen. Der Aussenkontakt ist zu Beginn gänzlich eingeschränkt und wird dann kontrolliert wiederhergestellt. Diese Abteilung ist eine räumlich getrennte Einheit im östlichen Teil der Festung. Sie ist unter anderem mit Gittern und Stacheldraht gesichert, um Ausbrüche zu verhindern.Das kurze Programm in der Geschlossenen umfasst rund 5 Monate und betrifft die zivilrechtlich Eingewiesenen. Ins lange Programm von 7 bis 8 Monaten kommen mehrheitlich die strafrechtlich Eingewiesenen.

Der Tagesablauf in der geschlossenen Abteilung sieht unter der Woche jeweils am Donnerstag folgendermassen aus:
07.15 Zimmeraufschluss
07.45 Frühstück, Zimmerordnung
08.15 Arbeits- und Schulbeginn
09.45 Pause
10.15 Fortsetzung Arbeit und Schule
12.00 Mittagessen, Ämteln
13.30 Arbeits- und Schulbeginn
15.30 Arbeits- und Schulschluss
16.00 Sport
18.00 Nachtessen, Ämteln, Freizeit
20.30 Gruppensitzung
21.45 Ämteln
22.00 Zimmereinschluss

Während der Zeit in der Geschlossenen erfahren die Jugendlichen laut dem Konzept den nötigen Halt zum Einüben neuer Verhaltensmöglichkeiten, die auf Selbstständigkeit angelegt sind; und sie werden in der Konfliktfähigkeit gefördert. Nach Ablauf der geschlossenen Massnahme bleibt die Mehrheit der Jugendlichen auf der Festung und wechselt in eine der anderen Gruppen. Sie beginnen also eine Lehre oder ein anderes Ausbildungsprogramm. (jow)

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Video: srf

Sexismus in den Medien:

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Sexismus in den Medien
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