Der christliche Glaube ist mit all seinen Ritualen, Dogmen, Lehren und moralischen Anforderungen aus der Zeit gefallen. Liest man die Bibel mit kritischem Verstand, staunt man immer wieder über die kuriosen, moraltriefenden Geschichten. Aus heutiger Perspektive wirken viele biblische Erzählungen erdrückend und beklemmend.
Dieses Narrativ lässt sich am biblischen Begriff der Sünde, vor allem dem der Todsünde, exemplarisch aufzeigen. Eine Sünde ist danach nicht primär ein verwerfliches Verhalten, das andere Menschen schädigt, sondern beinhaltet einen religiösen, moralischen Kern.
Laut Bibel führt eine Sünde dazu, dass sich der Fehlbare von Gott entfernt. Dabei scheint es Gott nicht zu interessieren, dass die Mitmenschen des Sünders zu Schaden kommen oder unter seiner Tat leiden.
Konsequenterweise kann denn auch nur Gott dem Sünder vergeben. Bedingung ist allerdings, dass er seine Taten vor Gott bereut.
Schwierig wird es bei den Todsünden. Adam und Eva haben eine solche begangen, weil sie vom Baum der Erkenntnis genascht haben. Deshalb wurden sie aus dem Paradies geworfen.
Seither kommen laut Bibel alle Nachkommen mit der Erbsünde auf die Welt. Wir tragen also vom ersten Tag an das Böse in uns. Angeblich.
Allein schon diese biblische Interpretation von der Mutter aller Sünden ist bemerkenswert. Sie erinnert an den Spruch, selig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich (Math 5,3).
In diese Kategorie gehört auch die Geschichte von Noah und der Sintflut. Gott rettete gerade mal eine «heilige Familie» und liess alle Sünder in den Fluten ertrinken. Mitsamt den Tieren – die wohl nicht sündig waren …
Was denn genau gravierende Sünden – eben Todsünden – sein sollen, listet die Bibel nicht auf. Überraschend ist deshalb der Katalog an Sünden, der später im klösterlichen Milieu herausgefiltert wurde. Im 5. und 6. Jahrhundert entstanden daraus die für die Kirche wichtigen sieben Todsünden.
Man sucht in dem Sündenkatalog vergeblich Verbrechen wie Diebstahl oder Totschlag. Vielmehr handelt es sich bei den sieben Todsünden fast ausschliesslich um moralische Ansprüche und Forderungen. Konkret sind es der Stolz, die Habgier, die Wollust, der Neid, die Völlerei, der Zorn und die Faulheit.
Anhand dieser «Todsünden» lässt sich der Wandel der Zeit exemplarisch ablesen. Heute bewerten wir die meisten der angeblichen Todsünden höchstens als unsoziales oder unvernünftiges Verhalten. Auf jeden Fall würden wir die Welt nicht verstehen, falls uns Gott beim Jüngsten Gericht wegen solcher Übertretungen in die Hölle verbanden würde.
Picken wir ein paar dieser «Todsünden» heraus. In Sachen Wollust sündigen die meisten Menschen fast wöchentlich. Sex vor oder ausserhalb der Ehe und zum Vergnügen gehört dazu. Auch Besuche im Bordell, Masturbation, Pornovideos usw.
Auch bei der Völlerei kämen viele von uns nicht gut weg. Für Gott muss unsere Esskultur ein Gräuel sein. Gourmets zelebrieren das Essen wie eine Ersatzreligion.
Amüsant ist auch, dass die Faulheit als Todsünde taxiert wird. Gott hat die Welt so eingerichtet, dass wir mit wenig Energieaufwand ein möglichst grosses Resultat erzielen. Heute müssten wir eher den Stress zu den Todsünden zählen, führt dieser doch immer häufiger zu Burnouts und Depressionen.
Weiter zum Zorn. Er ist ein lästiges Verhalten, das das Zusammenleben nicht angenehmer gestaltet. Doch er gehört zu den natürlichen Regungen, die manchmal eine Ventilfunktion erfüllen, damit wir nicht allzu aggressiv werden.
Bekannter als die sieben Todsünden sind die zehn Gebote, die auch heute noch zur DNA der christlichen Kirchen gehören. Sie enthalten zwar wirkliche «Todsünden» wie: «Du sollst nicht töten», aber auch seltsame Forderungen wie zum Beispiel: «Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.»
In der Bibel heisst es dazu:
Ein weiteres Gebot lautet: «Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen.» Die Frage dabei: Gehört das Fluchen im Namen Gottes dazu?
Der Begriff der Sünde nach religiösem Verständnis gehört eigentlich abgeschafft. Psychologie, Soziologie, Pädagogik und Philosophie befassen sich wissenschaftlich mit dem Phänomen des Bösen, der Verbrechen, der Triebe und dem Hang zu den vielfältigen Übertretungen. Dabei geht es um Motive, Ursachen und Zusammenhänge.
Die Wissenschafter vermeiden konsequent, Fehlverhalten als Sünde zu bezeichnen und moralisch zu bewerten. Deshalb wäre es an der Zeit, dass auch Glaubensgemeinschaften ihre moralinsauren Sündenregister auf der Abfallhalde der Geschichte entsorgen würden.