Beim Begriff Tantra blinken zwei Begriffe intuitiv auf: Sex und Esoterik. Wenn dann ein gross aufgezogenes Schweizer Tantra-Festival angekündigt wird, macht sich Skepsis breit: Kollektive Erotik und allenfalls sexuell aufgeladene Rituale mit 100 oder mehr Teilnehmerinnen und Teilnehmern?
Wie funktioniert das, fragt man sich, was geht da wohl ab? Haben sich bei dem Gefühlsrausch alle im Griff – vor allem die Männer? Was lockt Esoteriker, an einem solchen Festival teilzunehmen?
Zwei solcher Tantra-Festivals gingen in der Schweiz schon über die Bühne. Beide waren ausverkauft. Vom 14. bis 16. März findet nun das dritte Festival statt, erstmals in Zürich.
Die Ankündigung kommt vollmundig daher:
Von Erotik oder gar Sexualität ist nicht die Rede. Schaut man sich aber das Werbevideo an, sind Körperkontakt und erotische Tänze zentrale Aktionen. Die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind leicht bekleidet, und die innigen Berührungen und Umarmungen gehen offensichtlich über spirituelle Rituale hinaus.
Die Versprechen sind beeindruckend:
Auch hier: Kein Wort über Sex oder Tantra. Der Name Tantra im Festivaltitel reicht aber, dass die Esoterikszene weiss, um was es geht. Das war nicht immer so. Beim ersten Festival in Twann BE kaschierte der amerikanische Veranstalter Eugene Hedlund die Sexlastigkeit des Festivals noch nicht, organisierte er doch Workshops zu den Themen «Slow Sex» und «Energetic Sex».
Dass er heute das Reizwort Sex umschifft, hat Gründe. Teilnehmerinnen warfen ihm später vor, seine Machtstellung ausgenützt und Grenzen überschritten zu haben.
Hedlund hat bei der Organisation des Zürcher Tantra-Festivals, das 450 Franken kostet, die Tantralehrerin Ananda Inglin an seiner Seite. Der Tantralehrer hat schon viele solcher Treffen weltweit durchgeführt. Auch jene in der Schweiz. Inzwischen ist sein Ruf – um es vorsichtig auszudrücken – angeschlagen.
Mehrere ehemalige Teilnehmerinnen werfen ihm in den sozialen Medien Machtmissbrauch und Übergriffe vor, wie «20 Minuten» vor zwei Jahren schrieb. Der Titel des Artikels: «Manipulation und Machtmissbrauch: So lockt der Sex-Guru Frauen ins Bett».
Eine ehemalige Mitarbeitern erklärte, sie habe mitbekommen, dass Hedlund mit Teilnehmerinnen seiner Kurse geschlafen habe. Deshalb habe sie ihn mehrmals gebeten, nicht mit ihnen zu flirten und ihre Grenzen zu akzeptieren. Er habe immer Besserung versprochen, sein Verhalten aber nicht geändert, berichtete sie.
Früher hatten schon deutsche Medien über ähnliche Vorwürfe an die Adresse von Hedlund berichtet. Auch der «Blick» thematisierte nach dem Festival in Twann Hedlunds Verhalten. Er soll seine Machtposition ausgenutzt haben, um Teilnehmerinnen zum Sex zu verleiten.
Hedlund streitet nicht ab, dass es zu Grenzüberschreitungen gekommen ist. Gegenüber «20 Minuten» sagte er, er habe früher Kurse geleitet, die «die Interaktionen zwischen Schülern und Kursleitern zuliessen». Das habe sich geändert. Ihm sei klar geworden, dass dies nicht der richtige Weg sei:
Am Festival in Twann war auch Ex-Miss-Schweiz Mahara McKay beteiligt. Nicht als Teilnehmerin, sondern als Kursleiterin. Der Titel einer ihrer Veranstaltungen lautete «Authentic Pleasure, Orgasmic Breath» (authentisches Vergnügen und orgastisches Atmen), wie der «Blick» berichtete.
Ihr seien die Anschuldigungen der ehemaligen Teilnehmerinnen nicht bekannt gewesen, sagte sie, aber sie habe gewusst, dass Tantra in der westlichen Welt nicht unproblematisch sei. Wörtlich:
Mahara McKay scheint ihre Lehren gezogen zu haben, denn sie wird am bevorstehenden Tantra-Festival nicht als Kursleiterin teilnehmen.
Dass Tantra und Sex in der esoterischen Szene sehr gut zusammenpassen, macht Mitorganisatorin Ananda Ingling deutlich. Sie bietet ausserhalb des Festivals Tantra-Workshops an, bei denen die fortgeschrittenen Teilnehmer und Teilnehmerinnen die Tantra-Rituale nackt und mit intimen Berührungen und Massagen absolvieren.
Es stellt sich die Frage, was Tantra ursprünglich in der hinduistischen Religion und im Buddhismus bedeutete. Es ging vor allem um die energetische spirituelle Entwicklung, die zur Erleuchtung führen sollte. Der Einbezug der sexuellen Energie spielte zwar auch eine Rolle, aber in vielen Epochen eine untergeordnete.
Tantrische Rituale hatten meist einen asketischen Aspekt, weshalb Sexualität zur Lustbefriedigung verpönt war. Es ging vielmehr um die Kontrolle und Transformation der sexuellen Energie.
Das in der westlichen Welt praktizierte Neo-Tantra hat wenig mit dem ursprünglichen fernöstlichen Tantra zu tun. Grossveranstaltungen sind im eklatanten Widerspruch zu den hinduistischen und buddhistischen Praktiken.
Susanne Schaaf, Leiterin der Zürcher Sektenberatungsstelle InfoSekta, erklärt auf Anfrage von watson:
Das Setting von tantrischen Massenveranstaltung wie dem Tantra-Festival in Zürich ist tatsächlich problematisch. In der durch Tantra und Spiritualität aufgeheizten bis euphorischen Atmosphäre sinkt die Hemmschwelle, was Grenzüberschreitungen begünstigt, die rasch auch zu Übergriffen führen können.
Für Teilnehmerinnen ist es in der Gruppenkonstellation schwierig «Nein» oder «Stopp» zu sagen. Erschwerend kommt hinzu, dass dem Sex eine spirituelle Note beigemessen wird und helfen soll, den Erleuchtungsprozess zu beschleunigen.
Tantra-Workshops sollten – wenn überhaupt – zwingend in einem intimen und vertrauensvollen Rahmen stattfinden. Tantra in Grossgruppen sind esoterische Happenings mit einem sexuellen Grundrauschen. Dahinter versteckt sich eine Konsumhaltung, die mit Spiritualität wenig zu tun hat. Da schimmert ein gutes Stück westliche Dekadenz durch.