Der Schock am frühen Mittwochmorgen auf den leeren Magen: Donald Trump hat gewonnen. Nicht etwa knapp, wie die Umfragen prognostiziert hatten, sondern komfortabel. Selbst die Swing States gingen an ihn.
Wie war das möglich? Wie konnte die Mehrheit der Amerikanerinnen und Amerikaner einen solchen Ignoranten, Rüpel und Egomanen wählen, der alle Andersdenkenden verbal aufs Übelste traktierte? Der seine politischen Gegner als Ungeziefer bezeichnete, die es gewaltsam auszurotten gelte.
Der Migrantinnen und Migranten als Tiere charakterisierte, die das Blut der Nation vergiften würden. Dem Zehntausende Lügen nachgewiesen wurden. Ein rechtsradikaler Verschwörungstheoretiker, der nach der Abwahl seine blindwütigen Anhänger aufforderte, das Capitol zu stürmen und einen Putsch zu inszenieren?
Die Liste der Ungeheuerlichkeiten dieses narzisstischen Mannes liesse sich beliebig verlängern. Wir kennen sie. Deshalb noch einmal: Wie um Himmels Willen konnte dieser rücksichtslose, grobschlächtige Mann die Mehrheit hinter sich scharen?
Einen ersten Hinweis geben die fundamentalistischen Christen aus den Freikirchen und die erzkonservativen Katholiken, die rund 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen und zu etwa 90 Prozent ihre Stimme für Trump abgeben haben. Für sie müssten Menschen vom Schlag eines Trumps der Inbegriff eines gottlosen Sünders sein.
Doch ausgerechnet diesen Macho verehren die Gläubigen als Heilsbringer. Trump biederte sich vor seiner ersten Wahl zum Präsidenten aus wahltaktischen Gründen bei den Fundis an und gab sich als überzeugter Christ. Es reichte, dass er zwei Versprechen abgab, um sie in den Sack zu stecken.
Er positionierte sich als Abtreibungsgegner und versprach ihnen, die israelische Botschaft von Tel Aviv in die heilige Stadt Jerusalem zu verlegen. Der Frauenheld Trump mit seinen Affären ein Abtreibungsgegner? Wers glaubt, wird selig.
Sein scheinheiliges Bekenntnis reichte den strammen Christen, um ihm den Sinneswandel abzukaufen. Sie präsentierten ihn als Musterbeispiel für das Wirken Gottes auf Erden. Frei nach dem Motto: Für den Allmächtigen ist alles möglich.
Er habe den Sünder in einen Heiligen verwandelt, eine Wandlung von Saulus zum Paulus. Ja, Gott habe Trump zu seinem Werkzeug gemacht, um die „Morde im Mutterleib“ zu unterbinden. Seither verehren die Frommen Trump als Messias. Da kann man nur mit der Bibel sagen: Selig sind die Armen im Geiste.
Der Tages-Anzeiger veröffentlichte eine andere Sichtweise und titelte: „Gott hat den USA einen Teufel geschickt.“ Bleibt die Frage, was die übrigen rund 35 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner geritten hat, diesem selbstsüchtigen Mann ihre Stimme zu geben?
Da fällt einem der Rattenfänger von Hameln ein. Mit seinen populistischen Machtallüren stellte sich Trump erfolgreich als unerschrockenes Genie dar, das Kriege in einem Tag beenden und die Wirtschaft im Nu auf Vordermann bringen könne. Viele Leute kauften ihm seine Allmachtsphantasien als realpolitische Kompetenz ab.
Das massensuggestive Phänomen frass sich vor allem durch die unteren Bevölkerungsschichten. Die Leute sehnten sich in den wirtschaftlich schwierigen Zeiten nach einem Heilsbringer, der mit einem Zauberstab die Inflation und die Steuern senkt, die Löhne anhebt und die unerwünschten Migranten aus dem Land kickt.
Trump oder Harris? Das wurde zu einer Glaubensfrage, die zur Radikalität und Spaltung der Gesellschaft beitrug. Begleitet von einer Hysterie, die beinahe die Qualität einer Massenpsychose angenommen hatte.
So spielte auch bei diesen Trump-Anhängern ein religiöser oder zumindest pseudoreligiöser Aspekt eine Rolle. Sie unterwarfen sich fast bedingungslos, wie man es bei Sekten beobachten kann. Das Bild von Donald Trump als Sektenführer ist ziemlich stimmig. Und man erinnert sich unwillkürlich an die 30er-Jahre in Deutschland.
Wie sagte doch Jesus in Matthäus 24.5: «Denn es werden viele kommen unter meinem Namen, und sagen: ‚Ich bin Christus’ und werden viele verführen.»
Verehren die frommen Christen in den USA vielleicht einen Antichristen?