Die metaphysische und spirituelle Welt ist die Domäne von Religionen. Im Zentrum stehen geistige Werte. Woher kommen wir, was passiert nach dem Tod, was ist der Sinn des Lebens?
Zentral ist dabei die Frage nach Gott oder den göttlichen Instanzen. Es geht also primär um übersinnliche Phänomene, die sich der rationalen Analyse entziehen.
Bei all diesen Phänomenen gibt es keine eindeutigen Antworten. Jede Religion, jeder Glaube, jede Heilslehre setzt andere Schwerpunkte. Noch mehr: Sogar Gläubige der gleichen Religion entwickeln individuelle religiöse oder spirituelle Vorstellungen. Deshalb herrscht ein einziges globales religiöses Babylon. Dies vor allem auch, weil die spirituellen Weltbilder von Hoffnungen, Sehnsüchten und Ängsten geprägt sind.
Alle Religionen und Heilslehren haben aber eine Gemeinsamkeit: Sie erheben einen Absolutheitsanspruch. Die Geistlichen der Zehntausenden von Religionen und Sekten behaupten, Vertreter der einen und wahren religiösen Lehre zu sein. Deshalb sind unzählige «Wahrheiten» miteinander im Wettstreit.
Dabei ist allen klar, dass es nur eine Wahrheit geben kann. Und alle halbwegs gebildeten oder lebenserfahrenen Menschen wissen, dass es in der geistigen Welt die Wahrheit an sich nicht gibt.
Um Menschen glauben zu machen, es gebe eine unumstössliche Wahrheit, muss Gott ins Spiel gebracht werden. Nur er ist vermeintlich das Universalgenie, das alles weiss und sich nicht irren kann.
Der Glaube prägt das Bewusstsein, das Selbstverständnis, die Identität und Mentalität der Gläubigen. Seine Bedeutung weist einen existentiellen Charakter auf. Deshalb geht er weit über religiöse Qualitäten hinaus und prägt auch das säkulare Weltbild. Da beginnen die Probleme.
Dieser Glaube ans Absolute hat für uns verletzliche Menschen fatale Folgen. Einerseits erleben wir täglich unsere begrenzten Möglichkeiten und unser beschränktes Potential, auf der anderen Seite sind Gläubige überzeugt, an der göttlichen Wahrheit partizipieren zu können.
Diese Diskrepanz kann zu Verunsicherung und Abspaltungen führen. Wer überzeugt ist, im religiösen Babylon den einzig wahren Glauben gefunden zu haben, entwickelt eine elitäre Mentalität. Wer sich im Besitz der spirituellen «Wahrheit» wähnt, fühlt sich erhaben und überlegen. Gläubige in vielen Freikirchen sind sogar überzeugt, von Gott auserwählt zu sein.
Das Gefühl der Überlegenheit ist Gift für den sozialen Frieden. Es führt zu einem Elitedenken, zu Intoleranz und Überheblichkeit. Und zu Spannungen zwischen den Religionen. Die vielen religiösen Konflikte, die auch heute noch in manchen Weltgegenden zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führen, sind Ausdruck dieses Phänomens.
Die deutsche Psychologie-Professorin Beate Küpper forscht seit vielen Jahren auf diesem Gebiet. Das Fazit ihrer Untersuchungen: Religiöse Menschen neigen stärker zu Rassismus, Sexismus und Homophobie als religionsferne. Den Grund dafür ortet sie im Absolutheitsanspruch des Christentums.
Dass diese Denkweise in vielen islamischen Ländern noch wesentlich ausgeprägter ist, lässt sich leicht ableiten. Denn die Säkularisierung steckt in diesen Gesellschaften erst in den Anfängen.
Wie fatal dieses religiöse Elitedenken sein kann, zeigt der Fall des 27-jährigen amerikanischen Missionars John Allen Chau. Er wollte vergangene Woche die völlig autark lebenden Ureinwohner auf Sentinel Island im Indischen Ozean besuchen und bekehren, obwohl jeder Kontakt strengstens verboten ist. Ein Pfeil der Eingeborenen soll ihn tödlich getroffen haben.
«Ihr werdet mich für verrückt halten, aber ich denke, dass es sich lohnt», hatte Chau seinen Eltern geschrieben. «Bitte seid nicht wütend auf sie oder auf Gott, wenn ich getötet werde.» Gleichzeitig fügte er hinzu: «Gott, ich will nicht sterben.»