Europa im Würgegriff? So schlimm ist die Abhängigkeit von Microsoft
Das Wichtigste in Kürze
- In ganz Europa basieren die allermeisten staatlichen IT-Systeme auf Software von Microsoft.
- Weil die IT weiter wächst und immer wichtiger wird, geraten die Staaten immer tiefer in die Abhängigkeit des US-Konzerns.
- Wenn Kunden durch wirtschaftliche Zwänge an einen bestimmten Anbieter gebunden sind, wird dies im Fachjargon «Lock-in» genannt.
- Neun europäische Journalisten, die das Recherche-Netzwerk Investigate Europe bilden, haben die Auswirkungen des Microsoft-Lock-in während drei Monaten untersucht.
- Befragt wurden Ökonomen, IT-Manager, Sicherheitsexperten und Politiker aus 12 europäischen Ländern sowie die EU-Kommission und Vertreter des Europaparlaments.
- Fazit: Die Software-Abhängigkeit von Microsoft bringt gravierende Nachteile mit sich – für die staatlichen Stellen, aber auch für jeden einzelnen Bürger und jede Bürgerin.
- Die Reaktion von Microsoft folgt weiter unten.
Erschreckende Resultate
Die Ergebnisse seien in verschiedener Hinsicht beunruhigend, fasste der deutsche «Tagesspiegel» in einem am Montag publizierten, ausführlichen Bericht mit dem Titel Europas fatale Abhängigkeit von Microsoft zusammen:
- Die Abhängigkeit der Staaten von Microsoft verursache stetig steigende Kosten. Jahr für Jahr kassiere das Unternehmen allein für die Verteilung von Programm-Kopien an die 50 Milliarden Dollar an Lizenzgebühren.
- Die Abhängigkeit blockiere den technischen Fortschritt in den staatlichen Behörden.
- Die Abhängigkeit untergrabe systematisch das europäische Beschaffungs- und Wettbewerbsrecht.
- Mit der Abhängigkeit einher gehe ein erdrückender politischer Einfluss des US-Konzerns in Europa.
- Microsoft instrumentalisiere Schulen und Universitäten ungehindert für sein Marketing. Dies sei «das klassische Drogendealer-Modell», urteilte ein Experte. Bis die Kunden abhängig seien, kriegten sie den «Stoff» gratis.
- Die Abhängigkeit von Microsoft setze die staatlichen IT-Systeme samt den Daten ihrer Bürger einem hohen technischen und politischen Sicherheitsrisiko aus.
Ok, schlimm für die EU. Aber was ist mit der Schweiz?
watson hat bei einem Microsoft-kritischen Wissenschaftler nachgefragt: Matthias Stürmer leitet an der Universität Bern die Forschungsstelle Digitale Nachhaltigkeit. Der EVP-Politiker amtet als Geschäftsführer der Parlamentarischen Gruppe Digitale Nachhaltigkeit und setzt sich für Open-Source-Softwares ein.
Die Abhängigkeit von Microsoft sei auch in der Schweiz riesengross, konstatiert der Experte und erinnert an ein folgenschweres Gerichtsurteil in Zusammenhang mit der Beschaffung von Microsoft-Software beim Bund: 2011 unterlagen Open-Source-Anbieter vor Bundesgericht mit einer Beschwerde gegen einen 42-Millionen-Deal. Seither habe die Verwaltung «einen Freipass, Microsoft-Produkte einzukaufen, wie es ihr beliebe».
Pikantes Detail: Das Bundesgericht setzt seit jeher bewusst auf Microsoft-Alternativen. Für das oberste Gericht sei wichtig, die Langlebigkeit der Akten zu garantieren, hält Matthias Stürmer fest. Dieses Ziel sei nur durch den offenen Standard Open Document Format (ODF) zu erreichen. Zunächst hätten die Juristen StarOffice genutzt, seit einigen Jahren OpenOffice.org.
Als zynisch bezeichnet der Wissenschaftler die gängige Praxis beim Bund und anderen öffentlichen Stellen – wie etwa den Kantone Graubünden und Solothurn – «offene Ausschreibungen» für Microsoft-Produkte zu machen. Diese so genannten «In-Brand Wettbewerbe» seien ein Witz. Denn bei den Lizenz-Verkäufern herrsche logischerweise kaum Wettbewerb, da sie ihre Lizenzen alle beim Hersteller, also Microsoft, einkaufen müssten.
In der EU herrscht die gleiche (fragwürdige) Vergabepraxis
Damit geht's zurück in die Schweiz:
Einzig in der Stadt Bern forme sich Widerstand gegen Microsoft, hält Matthias Stürmer fest. Dort habe der Stadtrat letztes Jahr einen 843'000-Franken-Kredit genehmigt, um das Potenzial von Open-Source-Software (OSS) zu ergründen.
Noch gebe es aber auch in Bern viele Abhängigkeiten zu Microsoft, so dass mehr als fraglich sei, ob die Stadt selbst bei so einem Kredit «aus der Mangel von Microsoft» komme.
Und auf nationaler Ebene?
Er erhoffe sich sehr, dass die neue Open-Source-Strategie der Bundesverwaltung die Situation verbessere, sagt Stürmer. Bis 2018 soll der Bundesrat einen Plan vorlegen, respektive vorgeben, wie sich die Schweizer Behörden mittelfristig von der Abhängigkeit von Microsoft-Produkten lösen können.
Laut Stürmer muss sich dafür zunächst einmal das Bewusstsein einstellen, dass eine derartige Abhängigkeit von einem einzelnen übermächtigen Anbieter überhaupt ein Problem ist – denn das sei noch längst nicht überall der Fall. «Viele sehen Microsoft als Gott-gegeben an, was ja völlig absurd ist.»
Heute auch auf @zdnet_de: "Recherchenetzwerk unterstellt fatale Abhängigkeit von Microsoft" Wo bleiben CH Medien? https://t.co/WZC99DFURr
— Matthias Stürmer (@maemst) 10. April 2017
Warum sind Microsoft-Programme gefährlicher als Open-Source-Software?
Es sei kein Zufall, dass alle grossen Hackerangriffe auf staatliche europäische Institutionen in den letzten Jahren stets über Sicherheitslücken in Microsoft-Programmen erfolgten, hält der Tagesspiegel fest. Microsoft-Programme seien komplex (im Vergleich mit der Open-Source-Konkurrenz) und verwundbar. Insbesondere die Bürosoftware («Office») und die damit hergestellten Dateien seien das wichtigste Einfallstor für Cyberattacken.
Dazu passen aktuellen Meldungen über eine manipulierte «Word»-Datei, die das Dridex-Botnet verbreitet und Windows-Computer mit einem Banking-Trojaner infiziert.
Dridex-Botnetz verteilt millionenfach Angriffs-Mails auf ungepatchte Office-Lücke https://t.co/2aPC7sWmcO #Sicherheitslücken
— heise Security (@heisec) 11. April 2017
Word-Nutzer sollten derzeit besonders misstrauisch sein bei Mails: Textdokumente sollte man nur öffnen, wenn die Quelle absolut vertrauenswürdig ist. Und man sollte die Office-Software sofort aktualisieren! Microsoft hat am Dienstag einen «Patch» veröffentlicht, um die Sicherheitslücke zu schliessen.
Was sagt Microsoft?
Microsoft wollte keine der vom Recherche-Netzwerk gestellten Fragen beantworten und verweigerte eine Stellungnahme.
Zu keinem dieser Themen wollte Microsoft Fragen von Investigate Europe beantworten. https://t.co/TpMca5iWIe
— Morvjn (@morvjn) 11. April 2017
watson hat bei der Schweizer Vertretung des US-Konzerns angefragt. Die Antwort steht aus und wird hier nachgeliefert.
Update: Microsoft Schweiz hat bis heute (27. April) nicht auf die Medienanfrage geantwortet.
Aufschlussreiche Videos
Die Stadt München setzte jahrelang auf Open-Source-Software, und will nun in die Arme «des Monopolisten» Microsoft zurückkehren. Was steckt dahinter?
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