Im Leben jedes Menschen gibt es Ereignisse, die man nie vergisst. Bei mir gehört dazu die US-Wahlnacht im November 2016, in der ich für watson durch Manhattan streifte. Als ich in meiner Airbnb-Absteige in Brooklyn aufbrach, schien es nahezu sicher, dass ich Hillary Clinton als erste US-Präsidentin abfeiern würde. Es kam bekanntlich ganz anders.
Im Laufe des Abends zeichnete sich immer klarer ab, dass Donald Trump die Sensation schaffen und die Wahl gewinnen würde. Nie werde ich die konsternierten und verweinten Gesichter auf dem Times Square vergessen, ebenso wenig den Jubel vor dem Sitz von Fox News an der 6. Avenue. Selbst Trump hatte nicht mit dem Sieg gerechnet.
Seither gehöre ich zur Spezies der gebrannten Kinder. Die These, Kamala Harris werde gewinnen, halte ich für ähnlich voreilig wie im Fall von Hillary Clinton. Sicher, die Vizepräsidentin schleppt nicht den gleichen Ballast mit sich herum, und eigentlich sollte man wissen, dass Trump weder intellektuell noch charakterlich für das Präsidentenamt geeignet ist.
Trotzdem ist das Rennen weniger als eine Woche vor dem D-Day völlig offen. In den jüngsten Umfragen – sofern man ihnen trauen kann – hat Kamala Harris wieder ein wenig Aufwind. In den sieben entscheidenden Swing States jedoch liegt sie praktisch gleichauf mit Trump, befinden sich die Unterschiede innerhalb der statistischen Fehlermarge.
Die meisten Experten haben aus dem Debakel von 2016 gelernt. Sie verweigern eine eindeutige Prognose. Selbst das Bauchgefühl deutet bei zwei der meistbeachteten «Wahlgurus» in eine gegensätzliche Richtung: Jenes von Nate Silver spricht für Donald Trump, während sich James Carville «emotional» auf Kamala Harris festgelegt hat.
Die ehemalige Staatsanwältin aus Kalifornien hat ihr «Abschlussplädoyer» am Dienstag an einem symbolträchtigen Ort gehalten, in der Ellipse vor dem Weissen Haus. Von dort aus hatte Donald Trump am 6. Januar 2021 die Meute zum Kapitol gehetzt. Harris wollte das amerikanische Volk daran erinnern, wie gefährlich sein Comeback wäre.
Für Aussenstehende ist es in der Tat kaum nachvollziehbar, wieso eine Figur wie Donald Trump erneut eine reelle Chance hat, die Wahl zu gewinnen. Ein Typ, gegen den zweimal ein Impeachment-Prozess im Kongress durchgeführt wurde und der sich mit mehreren Strafverfahren herumschlagen muss, unter anderem wegen des Sturms auf das Kapitol.
In einer perfekten Welt müsste sich Donald Trump alle Hoffnungen abschminken. Die USA aber sind tief gespalten. Trumps fanatische Anhänger leben in einer Bubble, abgekoppelt von der Realität, und selbst «moderate» Wählerinnen und Wähler fühlen sich von ihm angezogen. Es gibt deshalb Gründe, warum man ihn nicht unterschätzen darf.
Eigentlich geht es den USA wirtschaftlich blendend. Sie haben sich besser als jedes andere Land von der Corona-Krise erholt, und die Löhne steigen. Bei vielen ist diese Erkenntnis trotzdem nicht angekommen. Sie sehen nur, dass im Supermarkt alles teurer geworden ist, und empfinden Nostalgie für Trumps erste Amtszeit, in der ihre Kaufkraft höher war.
Allerdings hat Kamala Harris bei der Wirtschaftskompetenz mit Trump gleichgezogen. Offenbar realisieren die Amerikaner, dass Trumps angekündigte Strafzölle die zuletzt stark rückläufige Inflation anheizen würden. Und dass die Massendeporation der rund 11 Millionen «illegalen» Migranten absurde Konsequenzen für die Wirtschaft hätte.
Vor vier Jahren polemisierte Präsident Trump gegen die Briefwahl und die vorzeitige Stimmabgabe. Davon profitierte Herausforderer Joe Biden. Nun haben die Republikaner ihre Meinung geändert und ihre Wählerschaft dazu motiviert, am Early Voting teilzunehmen. Eine Woche vor dem Wahltag wurden bereits 50 Millionen Stimmen abgegeben.
Donald Trumps Team wirkte 2020 ziemlich unvorbereitet. Als sich die Niederlage gegen Biden abzeichnete, reagierte es mit einer Klagewelle, doch Erfolg hatte es nur auf einem Nebenschauplatz, bei der Auszählung im Staat Pennsylvania. Jetzt stehen Trumps Juristen bereit, um das Wahlergebnis anzufechten. Es droht ein langes und übles Nachspiel.
Der geschmacklose Witz des Comedians Tony Hinchcliffe in New York über Puerto Rico als «schwimmende Müllinsel» war sogar für die Trump-Kampagne zu viel des Guten. Sie distanzierte sich davon, und der Ex-Präsident selbst liess am Dienstag bei einem Auftritt in Allentown im Staat Pennsylvania seine Verbundenheit mit der Karibikinsel hervorheben.
Trump hat allen Grund zur Sorge. Pennsylvania ist der vielleicht entscheidende Swing State, und gerade dort leben viele Puerto-Ricaner. Sie haben ohnehin das Gefühl, sie wären Menschen zweiter Klasse. Ihre Insel ist offiziell ein Territorium der USA und kein vollwertiger Bundesstaat. Entsprechend eingeschränkt sind ihre politischen Rechte.
Es ist trotzdem alles andere als sicher, dass Hinchcliffes Entgleisung Donald Trump schaden wird. Vor acht Jahren tauchte wenige Tage vor der Wahl ein Video auf, in dem sich Trump auf übelste Weise über Frauen äusserte. Viele glaubten, er wäre erledigt. Am Ende wurde er nicht nur gewählt, eine Mehrheit der weissen Frauen gab ihm ihre Stimme.
Es wäre ein grosser Fehler, Donald Trump zu unterschätzen. 2016 und 2020 schnitt er am Wahltag besser ab als zuvor in den Umfragen. Wiederholt sich dieser Effekt, wäre ihm der Wahlsieg kaum zu nehmen. Seine grösste Schwachstelle sind nicht die Puerto-Ricaner, sondern die Suburbs, wo Kamala Harris gemäss «Politico» einen klaren Vorteil hat.
Umfragen geben ihr einen Vorsprung von bis zu sieben Prozentpunkten. Wenn dies so bleibe, wäre es genug, «um die Schwächen von Harris bei Schwarzen, Latinos und jungen Männern zu kompensieren», heisst es in der «Politico»-Analyse. Dazu trage nicht zuletzt die Wut vieler Frauen über das Abtreibungsurteil des Obersten Gerichtshofs bei.
Man darf Donald Trump nie unterschätzen, aber auch nicht überschätzen. Die Wahl 2024 entzieht sich in mancher Hinsicht den üblichen Kategorien. Gewinnen wird, wer bis nächsten Dienstag besser mobilisieren kann: Also eine Kandidatin, die noch nie eine Wahl verloren hat, oder ein Kandidat, der seit 2016 jede Wahl verloren hat.