Mit 80 Jahren ist Joe Biden der älteste US-Präsident der Geschichte. Das kann er nicht verbergen. Immer wieder leistet sich der Demokrat teilweise peinliche Aussetzer. Am Dienstagabend zur Primetime jedoch erlebte man Biden in Hochform. Während mehr als 70 Minuten hielt er im Kapitol eine fulminante und fokussierte Rede zur Lage der Nation.
Danach waren sich viele Beobachter einig: Die Ansprache war ein inoffizieller Startschuss zu Bidens Wahlkampf für eine zweite Amtszeit im Weissen Haus. Noch hat der Präsident seine Pläne nicht offengelegt, auch weil ihm die Affäre um Geheimdokumente, die in einem Büro in Washington und in seinem Privathaus gefunden wurden, in die Quere kam.
Spätestens seit Dienstag aber ist klar, dass Biden es nochmals wissen will, ungeachtet der Bedenken wegen seines Alters, und obwohl sogar eine Mehrheit der Demokraten laut Umfragen eine erneute Kandidatur ablehnt. Doch Joseph Robinette Biden hat zu lange auf sein grosses Ziel hingearbeitet, um das Weisse Haus nach vier Jahren wieder zu verlassen.
Das zeigte sich am Inhalt seiner Rede. Die aussenpolitischen Krisen – China, Ukraine – sprach er eher beiläufig an. Ausführlich widmete sich Biden der Innen- und Wirtschaftspolitik. Zwölf Millionen Jobs seien in seinen ersten zwei Amtsjahren geschaffen worden. Die Arbeitslosigkeit ist so tief wie nie seit der Hochkonjunktur der 1960er-Jahre.
Die grossen Errungenschaften liess er ebenfalls Revue passieren: das Corona-Hilfspaket von fast zwei Billionen Dollar, das Programm zur Reparatur der maroden amerikanischen Infrastruktur oder das umfassende Industrie-, Klima- und Sozialgesetz namens Inflation Reduction Act (IRA). Seit langer Zeit hat kein US-Präsident in so kurzer Zeit so viel erreicht.
In der Bevölkerung allerdings ist diese Botschaft nicht angekommen. Laut einer aktuellen Umfrage von Washington Post und ABC News denken nicht weniger als 62 Prozent der Amerikaner, Joe Biden habe in seiner bisherigen Amtszeit kaum etwas auf die Reihe bekommen. Dieser Befund kontrastiert auffällig mit der Realität in Washington.
Die Erklärung liefert ein weiterer Befund der Umfrage. Demnach erklärten 41 Prozent, ihre finanzielle Lage habe sich verschlechtert. Das ist der höchste Wert seit 1986, als diese Frage erstmals gestellt wurde. Verantwortlich dafür sind die hohe Inflation und vor allem der Benzinpreis, der in den USA die politische Grosswetterlage erheblich beeinflusst.
Biden betonte am Dienstag, dass die Teuerung zuletzt rückläufig war und die Benzinpreise gesunken sind. Auf seine Beliebtheit hat sich dies bislang kaum ausgewirkt. In der Umfrage von ABC und «Washington Post» kam er nur auf eine Zustimmung von 42 Prozent, der schlechteste Wert der letzten 13 US-Präsidenten mit Ausnahme von Donald Trump.
Es sind keine idealen Voraussetzungen für eine Wiederwahl, weshalb Präsident Biden keine Gelegenheit auslässt, um Präsenz zu markieren, wenn irgendwo ein Projekt mit Geld aus dem Infrastrukturprogramm in Angriff genommen wird. Seine Wirtschaftspolitik garniert er mit protektionistischen Parolen, im Stil von Donald Trumps «America first».
Die Republikaner rief er in seiner Rede zur Zusammenarbeit auf. Gleichzeitig schien er die wiederholten Zwischenrufe und Anfeindungen von Hardlinern wie Marjorie Taylor Greene regelrecht zu geniessen. Er beschuldigte die Republikaner, als Gegenleistung für die Anhebung der Schuldenobergrenze bei populären Sozialprogrammen sparen zu wollen.
Gemeint sind die Social Security – Amerikas AHV – und die Senioren-Krankenkasse Medicare. Selbst Ex-Präsident Trump hatte seine Partei vor Einsparungen in diesen Bereichen gewarnt. Denn auch in den USA sind ältere Menschen besonders treue Wählerinnen und Wähler. Auf ihre Stimmen ist jeder Möchtegern-Präsident angewiesen.
Donald Trump ist überhaupt Bidens grösster Trumpf. Der Republikaner hatte seine erneute Kandidatur im November bekannt gegeben, nach dem enttäuschenden Abschneiden seiner Partei bei den Kongresswahlen. Die Flucht nach vorn hat bislang wenig bewirkt. Der Enthusiasmus für eine Trump-Kandidatur ist überschaubar, seine Umfragewerte sinken.
Nicht wenige Grossspender der Republikaner möchten ihn loswerden. Nächste Woche dürfte Nikki Haley, Trumps ehemalige UNO-Botschafterin, ihre Kandidatur ankündigen und sich als erste Herausforderin aus der Deckung wagen. Und trotzdem sind Kenner der US-Politik überzeugt, dass Donald Trump sich am Ende einmal mehr durchsetzen wird.
Vielen Amerikanerinnen und Amerikanern graut vor einem «Rematch» zwischen Biden und Trump – und nicht nur ihnen. Für den Amtsinhaber aber ist diese Perspektive ein weiterer Ansporn, um erneut zu kandidieren. Denn seine Erfolgschancen gegen Trump wären mehr als intakt. In letzter Zeit mehrten sich die Hinweise, dass er sich bald äussern wird.
Als Ron Klain kürzlich als Stabschef von Joe Biden zurücktrat, «verplapperte» er sich bei seiner Abschiedsrede im Weissen Haus: «Ich freue mich, an Ihrer Seite zu sein, wenn Sie 2024 als Präsident kandidieren.» Klain ist seit Jahrzehnten ein enger Vertrauter von Biden, er dürfte schon bald ein «Comeback» geben, womöglich als Leiter seines Wahlkampfteams.
Der Präsident selber hatte wenige Tage vor der «State of the Union» an einer Versammlung der Demokratischen Partei in Philadelphia klargemacht, dass er sich noch lange nicht am Ende seines Weges befindet: «Wir haben gerade erst angefangen», rief er einer jubelnden Fangemeinde zu. Diese reagierte entsprechend: «Four more years!»
Pat da Rat
Aldebara
Zamorano1