Der britische Premierminister Boris Johnson tritt bald zurück. So lauteten zumindest die Schlagzeilen diese Woche, nachdem der Druck auf ihn von Woche zu Woche grösser geworden war. Und so durfte man das Geschehene auch verstehen, wenn man der «Rücktrittsrede» von Johnson diese Woche zugehört hat.
Sie dauerte fast sechs Minuten, enthielt viele Danksagungen und ein bisschen Selbstkritik. Das wichtigste Wort fehlte aber: Rücktritt.
Er sagte lediglich, dass er traurig sei, den «weltweit besten Job aufzugeben», und nun eine neue Regierung gebildet werden solle. Man hörte von ihm auch die Worte: «Ich werde den neuen Regierungschef – wer auch immer er oder sie sein mag – so gut unterstützen, wie es mir möglich ist». Aber dass er nun gehe und die britische Politik in einigen Wochen oder Monaten ohne ihn funktionieren müsse: Davon war kein Wort zu hören.
Diese Analyse mag spitzfindig sein, sie entspricht aber einem roten Faden in der langjährigen Karriere von Boris Johnson: Er wusste immer ein wenig besser als die anderen, wie man mit Worten spielt und damit beeinflussen kann, was die Öffentlichkeit denken soll. Sein nicht-so-klarer Rücktritt darf deshalb als manipulativer PR-Stunt bezeichnet werden – oder anders gesagt: als weiterer Akt des «Genies Boris Johnson».
Laut sagen darf man das aber nicht. Wer heute öffentlich zugibt, die «Massen manipulieren» zu wollen, erntet rasch Kritik. Die Wörter aber geschickt zusammenzusetzen und so beherrschen zu wollen, worüber überhaupt diskutiert wird, gehört jedoch zur Politik dazu. Man nennt es auch «Framing».
Das macht die SP, wenn sie lieber vom «Steuerbetrugsgeheimnis» statt vom «Bankgeheimnis» spricht, genauso wie die FDP und SVP, wenn sie im städtischen Zürcher Milieu eine «ÖV-Initiative» lanciert (mit der am Ende primär Autofahrenden zuliebe die Tempo-30-Zonen verboten werden). Das machten auch die US-Republikaner, als sie kurz nach den Anschlägen vom 11. September radikal die Bürgerrechte beschnitten und das Gesetz dafür schlicht «Patriot Act» nannten: Die Republikaner um den damaligen US-Präsidenten George W. Bush erreichten so, dass jede Gegnerin und jeder Gegner des Gesetzes als «unpatriotisch» kritisiert werden konnten.
Solche Wortspielereien zu erfinden, ist nicht einfach. US-amerikanische Parteien bezahlten Millionen an Denkfabriken, um neue Begriffe zu entwickeln und zu testen. In der Schweiz war es die SVP, die jahrelang dank geschickt gewählten Begriffen wie «Masseneinwanderungs-Initiative» die Politik dominierte. Sie alle waren aber langfristige Projekte: Die SVP musste ihr Personal darin schulen, wie man wann welche Begriffe zur sogenannten «Ausländerpolitik» wählen muss. Die US-Republikaner taten das ebenso und bauten parallel Medienstrukturen auf, um darüber herrschen zu können, worüber diskutiert werden soll.
Boris Johnson wählte aber einen anderen Weg. Einen eigentlich dämlichen Weg, der ihn zum ausgelachten Clown machte. Die Strategie war aber ganz bewusst gewählt.
Boris Johnson verheimlichte das nie. 2013 sagte er in einem BBC-Interview die fast schon intellektuellen Worte: «Ich glaube, dass es – als allgemeine Taktik im Leben, falls wir so was anstreben – durchaus nützlich sein kann, den Eindruck zu erwecken, man würde sich absichtlich dumm anstellen. Denn wenn du wirklich mal keine Ahnung hast, erkennt niemand den Unterschied.»
Womit er eigentlich zugab, dass all das, was später folgen sollte, nichts weiter war als ein Schauspiel, in dem Johnson den Dummen spielt.
Was das heisst, wissen wir: «Boris» war sehr häufig einfach der «typische Boris Johnson». Er konnte die Olympischen Spiele 2012 nicht wie jede andere Politikerin oder Politiker eröffnen – nein, er sauste an einer Seilbahn hängend durch einen Park, wo er feststeckte und sich damit zum Gespött machte (siehe Video, es ist lustig!).
Das Clown-Image pflegte er jahrelang, etwa, als er immer mit zerzausten Haaren auftrat oder sich für die PR-Fotografie in die Joggingschuhe oder aufs Velo warf: Die Öffentlichkeit soll ruhig schmunzeln über den wirr aussehenden und leicht übergewichtigen Politiker, der nun offenbar auch noch Sport treiben soll (Spoiler: Manche Szenen waren tatsächlich gestellt).
Boris Johnson hatte keine Mühe, solche PR-Stunts zu landen: Sein exzentrisches Gemüt half ihm dabei, und dieses half wiederum seinem Image: Er war der Clown, der alles tun durfte. Dieses Bild liess zu häufig vergessen, dass Boris Johnson nicht ein Komiker war, sondern ein politischer Mensch mit politischer Macht. Johnson vertrat rassistische Positionen und war ein notorischer Lügner – zwei Eigenschaften, die eigentlich nicht ins Amt des Londoner Bürgermeisters oder des britischen Premiers gehören.
Die Eigenschaften kaschierte er aber geschickt und zog alle Register der politischen Kommunikationslehre. Der rote Faden dabei war sein grösstes politisches Projekt: der Brexit. Den Erfolg dafür baute er vor der Jahrtausendwende als Möchtegern-Journalist auf, als er manipulative Lügen über die Europäische Union verbreitete. Die Märchen verbreiteten ein und dasselbe Bild: Hier und dort soll ein EU-Diktat herrschen. Johnson wurde zwar wegen unjournalistischer Arbeit später gefeuert. Das hinderte ihn aber nicht daran, im Brexit-Abstimmungskampf dieselben Lügen zu verbreiten.
Seine Kampagne druckte etwa auf einem Bus die Behauptung auf, dass Grossbritannien jede Woche «350 Millionen Pfund an die EU» schicke – was ein gutes Beispiel des Framings war: Die EU soll als schädlich dargestellt werden (auch wenn die Briten jahrzehntelang in finanziellen Fragen dank dem «Britenrabatt» eine Sonderstellung in Europa hatten). Der kommunikative Schachzug wurde aber getoppt, als herauskam, dass die «350 Millionen Pfund» erstunken und erlogen waren: Boris Johnson gab danach ein Interview, in dem er erklärte, was er so in seiner Freizeit mache.
Johnson stammelte, versuchte sich zu erklären: «Ich mache … ich habe eine Sache, wo ich Modelle … als ich Bürgermeister von London war, haben wir schöne … ich mache Busse.»
Er stammelte, weil er sich in diesem Moment genau überlegte, wie er sich erneut unvorteilhaft präsentieren kann, um dann grössere Vorteile daraus zu ziehen. Das Resultat der visuell gut erkennbaren Denkarbeit war die folgende Erklärung:
Das Video ging um die Welt, nachdem Medien darüber berichteten und Social-Media-User sich darüber amüsierten. Den grösseren Spass hatte hingegen Johnson: Er wusste, dass dank dieses Auftritts niemand mehr über die 350-Millionen-Pfund-Lüge auf den Brexit-Abstimmungskampf-Bussen reden wird. Wer in diesen Tagen nach «Boris Johnson Bus» im Internet suchte, erhielt nur noch das Witz-Video, weil sich kaum mehr jemand für die Fakten im Abstimmungskampf interessierte. Ein kommunikativer Sieg dank einer genialen Blitzidee.
Solche Ideen gab es in Johnsons Karriere zuhauf. So musste er einmal an einem Unternehmerinnen- und Unternehmer-Konvent über den Klimawandel sprechen. Seine langjährige Haltung war vergleichbar mit einem wissenschaftsskeptischen Wirtschaftsliberalen: Er kannte den Unterschied zwischen Wetter und Klima nicht und hatte entsprechend wenig Freude an Klimaschutzmassnahmen. Wie soll er also eine gescheite Figur am Wirtschaftskongress abgeben, wo über die ökonomischen Herausforderungen der Klimakrise gesprochen werden soll?
Johnsons Antwort: Er tat es gar nicht. Johnson verlor scheinbar den Faden, stammelte wieder mal herum und fabulierte danach ausführlich über das «Peppa-Wutz-Land», wo er angeblich am Wochenende zu Gast war. Seine Ausführungen waren so lang, dass am Ende ziemlich wenig Klimapolitik übrig war.
Johnson rettete sich mit einer Idee, auf die er vermutlich wenige Stunden zuvor kam: Er lenkte den Blick der Öffentlichkeit auf eine andere Sache und konnte damit geschickt verhindern, dass über Klimapolitik gesprochen wird.
Zur selben Strategie griff er auch 2019, als er respektlos Burka-tragende Musliminnen mit «Briefkästen» und «Bankräubern» verglich. Man könnte sich über Bekleidung stundenlang streiten – der Sturm der Entrüstung zeigte aber den Konsens auf, wonach solch plumpe Vergleiche schlicht fremdenfeindlich sind. Auch Parteifreundinnen und Parteifreunde meinten: BoJo, so nicht!
Journalistinnen und Journalisten taten das, was sich in einer solchen Situation gehört: Sie fuhren zu seinem privaten Anwesen nach Oxfordshire, wo sich Johnson verschanzt hatte, und warteten auf eine Stellungnahme. Sie warteten und warteten (bei Eiseskälte) und brüllten – als Johnson dann endlich herauskam – die Frage: «Was ist Ihr Kommentar? Entschuldigen Sie sich?»
Johnson dachte nicht daran und spielte einmal mehr den Lächerlichen: Er bot (mutmasslich im Pyjama) den Medienschaffenden eine «cup of tea» an. Sein Angebot wiederholte er derart penetrant, dass nach wenigen Sekunden niemand mehr etwas zu seiner rassistischen Äusserung wissen wollte.
Das «Genie Boris Johnson» kam, sah, und siegte einmal mehr: Ohne Stellungnahme verschwand seine abschätzige Bemerkung aus den Schlagzeilen. Ein Journalist des «Independent» erkannte zwar das Spiel und warnte öffentlich davor, dass Johnson die «Kontrolle über die Berichterstattung» an sich reissen will. Die Warnung kam zu Recht, doch auch der «Independent» musste selbst merken: Es ist nicht immer einfach, herauszufinden, was ein PR-Stunt ist und was nicht. Zwei Jahre nach dem «Cup of Tea»-Stunt lieferte der «Independent» mehr als drei Artikel zum «Peppa-Wutz-Land»-Auftritt.
All diese Beispiele zeigen: Johnson beherrschte das Spiel der politischen Kommunikation auf Kommando. Im richtigen Moment das Dümmste tun, damit wichtigere Fragen untergehen. Oder wie es der australische Politstratege Lynton Crosby sagte: Die tote Katze auf den Esstisch werfen.
Oder in anderen Worten: «Wenn eine tote Katze auf den Esstisch geworfen wird, wird jeder schreien: ‹Du meine Güte, Kumpel, da liegt eine tote Katze auf dem Tisch!› Mit anderen Worten, sie werden über die tote Katze sprechen – das, worüber sie sprechen sollen – und sie werden nicht über das Problem sprechen, das dir so viel Ärger bereitet hat.»
Gesagt hat das nicht Crosby selbst, sondern Boris Johnson, der Crosby für seine Wahlkämpfe fürs Bürgermeisteramt von London 2008/2012 angeheuert hat. Rückblickend gesehen war er eine gute Investition für Johnson: Er lernte und perfektionierte dank ihm den geschickten Wurf der «toten Katze». Kein anderer Politiker, keine andere Politikerin schaffte dies in seiner Häufigkeit und Genialität.
Sein angeblicher «Rücktritt» bestätigt dieses Bild: Er trat zum richtigen Zeitpunkt auf, deutete frei von Demut einen möglichen Rücktritt an und liess offen, wann genau er die politische Bühne verlässt. Die Öffentlichkeit wird sich nun auf die Frage seiner möglichen Nachfolge stürzen, womit die «tote Katze» für einmal nicht nur Johnson selbst – sondern auch seiner Konservativen Partei dient: Der Streit über loyale und abtrünnige Parteimitglieder wird unter den Teppich gekehrt, möglichst rasch und möglichst so, dass niemand mehr über Johnson-Befürworterinnen und Johnson-Gegner spricht.
Es wären Fragen, die insbesondere konservativen Parlamentsabgeordneten vor einer nächsten Wiederwahl unangenehm werden könnten: Warum hat man damals im Jahr 2022 einen Lügner im Premierminister-Amt unterstützt und verteidigt?
gerade wegen solchen artikeln bin ich oft und sehr gerne bei watson. 👍💪🙏
Manipulieren ist eine scheussliche Tugend!