Der Norden des Gaza-Streifens war das erste Ziel der israelischen Armee nach dem Hamas-Angriff auf Israel vom 7. Oktober 2023. Damals rückten Bodentruppen mit Panzern in die Gegend ein. Ein Jahr später meldete die Hamas am Donnerstag, ihre Kämpfer hätten in Nord-Gaza einen israelischen Panzer zerstört.
Gleichzeitig schlugen Raketen der Hisbollah aus dem Libanon in der israelischen Stadt Kiriyat Shmona ein, wo ein Geschoss der Hisbollah erst vor wenigen Tagen zwei Menschen getötet hatte. Obwohl die israelische Armee Tausende Waffen von Hamas und Hisbollah zerstört und viele Führungsmitglieder der Terrorgruppen getötet hat, schiessen deren Kämpfer weiter.
Gewinnen können Hamas und Hisbollah gegen Israel nicht. Die Hamas hat seit Oktober 2023 bis zu 12'000 Kämpfer verloren, das ist die Hälfte ihrer Vorkriegs-Stärke, wie der Nahost-Experte Bruce Hoffman von der US-Denkfabrik CFR in einer Analyse schreibt. Grosse Teile des Gaza-Streifens sind verwüstet: Die Organisation Euro-Med Human Rights Monitor in Genf schätzt, dass Israel Bomben im Gesamtgewicht von mehr als 70'000 Tonnen über Gaza abgeworfen hat.
Israel hat Hamas-Chef Ismail Hanija getötet; sein Nachfolger Jahja Sinwar hält sich in Gaza versteckt. Israels Verteidigungsminister Yoav Galant erklärte vor kurzem, als «militärische Formation» existiere die Hamas nicht mehr.
Im Libanon dauert der Krieg erst seit drei Wochen an, doch die massiven israelischen Bombardements haben bereits rund die Hälfte der Hisbollah-Raketen zerstört, wie israelische und amerikanische Regierungsvertreter laut der «New York Times» schätzen. Milizenchef Hassan Nasrallah und viele seiner Kommandeure sind tot.
Trotzdem schiessen Hamas und Hisbollah weiter auf Israel. Viele ihrer verbliebenen Waffen sind versteckt. Besonders die Kurzstreckenraketen beider Gruppen seien weiträumig verteilt, sagt der ehemalige israelische Diplomat Joshua Krasna. «Manchmal gibt es nur ein oder zwei Geschosse in einer Gegend», sagte Krasna zu CH Media.
Die Hamas besitzt zudem leicht transportierbare Waffen wie Granatwerfer und Panzerfäuste. Israel könne nicht jede Waffe finden, sagt Krasna: «Es wird immer eine bestimmte Kapazität übrig bleiben.»
Die Hisbollah hat ihre Kurzstreckenraketen im libanesisch-israelischen Grenzgebiet stationiert – diese Waffen will Israel beim Vorstoss seiner Bodentruppen zerstören. Ballistische Raketen der Hisbollah, die Ziele in ganz Israel erreichen können, sind in anderen Landesteilen versteckt, teilweise in Bunkern.
Ein Propaganda-Video der Miliz vom August zeigte unterirdische Gänge, die gross genug für Lastwagen waren. Die israelische Armee wirft der Hisbollah zudem vor, Raketen in Wohnhäusern zu lagern, um sie vor Luftangriffen zu schützen.
Auch Israels Schläge gegen die Befehlsketten von Hamas und Hisbollah können die Angriffe nicht stoppen. Hamas-Kämpfer brauchten keinen konkreten Einsatzbefehl, sagt Ex-Diplomat Krasna, der an der Universität New York lehrt und bei den Denkfabriken FPRI in den USA und Moshe-Dayan-Center in Israel arbeitet. «Es gibt so etwas wie einen Dauer-Befehl, Raketen abzuschiessen, wenn die Gelegenheit günstig ist.»
In Gaza feuern Hamas-Trupps aus Gegenden, aus denen die israelische Armee grössere Einheiten der Terrororganisation vertrieben hat. Dahinter steckt politisches Kalkül. «Du kannst damit zeigen, dass du immer noch schiessen kannst, obwohl die israelische Armee dich angegriffen hat», sagt Krasna.
Die Hamas versucht, Israel mit dieser Taktik zu zermürben. Die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu verfolgt nach Meinung vieler Beobachter in Gaza unrealistische Kriegsziele: Sie will die Hamas vollständig vernichten. Deshalb dürfte sich Hamas-Chef Sinwar als Sieger sehen, wenn er seine Organisation über den Krieg retten kann.
CFR-Experte Hoffman erinnert an einen Satz des früheren US-Aussenministers Henry Kissinger aus dem Vietnam-Krieg: «Die Guerrilla gewinnt, wenn sie nicht verliert – die reguläre Armee verliert, wenn sie nicht gewinnt.»
Das bedeutet, dass die Kämpfe in Gaza und im Libanon ohne erfolgreiche diplomatisch-politische Initiativen noch lange weitergehen können. Hamas und Hisbollah könnten weiterschiessen, «bis ihnen die Raketen ausgehen – und das kann sehr lange dauern», sagt Krasna. Die Hisbollah hat trotz ihrer Verluste noch bis zu 100'000 Geschosse in ihren Arsenalen. (aargauerzeitung.ch/lyn)