Das Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 hat nicht nur die israelische Gesellschaft bis ins Mark erschüttert, sondern den ohnehin konfliktreichen Nahen Osten weiter destabilisiert. Das Kalkül der palästinensischen Terrororganisation, die Annäherung zwischen Israel und den arabischen Staaten zu torpedieren und die palästinensische Frage wieder ins Zentrum der politischen Agenda zu rücken, dürfte vorerst aufgegangen sein – zum Preis von Zehntausenden Toten im Gazastreifen.
Seit dem 7. Oktober ist ein Jahr vergangen – ein Jahr, in dem sich die Lage in der Region dramatisch verschärft hat. Mittlerweile ist der Krieg im Gazastreifen selbst in den Hintergrund gerückt; jetzt droht ein umfassender Krieg zwischen den Regionalmächten Israel und Iran. Wie es dazu gekommen ist, zeigt dieser Rückblick.
Im Morgengrauen des jüdischen Feiertags Simchat Tora startet die islamistische Terrororganisation Hamas, die den Gazastreifen beherrscht, einen Grossangriff auf das umliegende Gebiet in Israel. Mehrere Tausend Raketen werden aus dem Gazastreifen auf Israel abgefeuert. Mehrere tausend Terroristen überwinden zum Teil mit Gleitschirmen die Grenzbefestigungen und töten an einem Musikfestival und in mehreren Ortschaften wahllos Soldaten und vor allem Zivilisten. Manche streamen die bestialische Schlächterei voller Stolz.
Insgesamt fallen dem Massaker nach israelischen Angaben 1205 Menschen zum Opfer; 251 weitere werden als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt und dort zum Teil durch die Strassen paradiert. 97 Geiseln sind derzeit noch in der Gewalt der Hamas – falls sie überhaupt noch am Leben sind. Die völlig überraschte israelische Armee startet die «Operation Eiserne Schwerter», die zunächst die von der Hamas besetzten Ortschaften zurückerobert und Ziele im Gazastreifen bombardiert.
Die schiitische Terrormiliz Hisbollah, die wie die Hamas vom Iran unterstützt wird, beschiesst aus ihren Stellungen im Süden des Libanon das Grenzgebiet im Norden Israels. Die israelische Luftwaffe bombardiert darauf Hisbollah-Stellungen im Südlibanon. Israel evakuiert Mitte Oktober das unter permanentem Beschuss liegende Grenzgebiet; Zehntausende Einwohner können seither nicht in ihre Wohnorte zurückkehren.
Am Nachmittag verkündet die israelische Regierung offiziell den Kriegszustand.
Israel riegelt den Gazastreifen komplett ab. Die Strom- und Lebensmittellieferungen werden eingestellt und die Wasserversorgung für die rund 2,4 Millionen Einwohner des Gebiets wird gekappt.
Die israelischen Truppen schliessen die Rückeroberung der von Hamas-Kämpfern besetzten Ortschaften ab.
Die israelische Regierung formiert sich zu einem Notstandskabinett der «nationalen Einheit» um; der Oppositionspolitiker Benny Gantz tritt in die Regierung ein. Zudem wird ein fünfköpfiges Kabinett für das «Krisenmanagement» eingerichtet.
Die israelische Armee fordert die etwa 1,1 Millionen Bewohner des nördlichen Gazastreifens auf, ihre Wohnstätten bis 20 Uhr am selben Tag Richtung Süden auf bestimmten Routen zu verlassen. Hunderttausende folgen dieser Aufforderung.
Die Wasserversorgung für den Süden des Gazastreifens wird ab dem 15. Oktober wieder hergestellt, die Blockade danach etwas gelockert.
Auf dem Gelände des Al-Ahli-Krankenhauses in Gaza-Stadt kommt es zu einer Explosion. Sowohl die Urheberschaft wie die Anzahl der Opfer werden zum Gegenstand einer Kontroverse. Die israelische Armee macht eine fehlgeleitete Rakete der Terrororganisation Islamischer Dschihad für die Explosion verantwortlich, während die Hamas das israelische Militär beschuldigt. Das von der Hamas kontrollierte Gesundheitsministerium von Gaza nennt die Zahl von mindestens 471 Toten. US-Geheimdienste schätzen später, dass 100 bis 300 Menschen umgekommen sind. Andere geheimdienstliche Quellen berichten von «eher ein paar Dutzend» Todesopfern.
Der erste Hilfskonvoi mit Lebensmitteln und medizinischer Hilfe trifft im Gazastreifen ein, nachdem Israel und Ägypten sich über die Öffnung des Grenzübergangs Rafah an der Grenze zwischen dem Gazastreifen und Ägypten geeinigt haben. Hunderte von Lastwagen passieren in den Tagen danach die Grenze. Dennoch verschärft sich die Versorgungslage im Küstenstreifen dramatisch.
Bereits am 26. Oktober dringen israelische Panzer-Einheiten vorübergehend in den Gazastreifen ein. Am nächsten Tag beginnt die erwartete Bodenoffensive der israelischen Truppen, die nun im dicht besiedelten Küstenstreifen vorstossen. Luftangriffe und Artilleriebeschuss treiben die Zahl der Todesopfer, auch von Frauen und Kindern, in die Höhe. Aber auch die israelische Armee muss im Häuserkampf Verluste hinnehmen.
Die israelische Armee hat nach eigenen Angaben den Gazastreifen entlang des sogenannten Netzarim-Korridors in eine Nord- und Südhälfte geteilt. Zudem sei Gaza-Stadt in der Nordhälfte mittlerweile vollständig eingekreist. Die israelischen Truppen konzentrieren sich auf die Aufspürung und Zerstörung von Tunneln, die der Hamas als Rückzugsbasis und Kommandobunker dienen. Zugleich finden weiterhin unablässige Luftangriffe auf den Nordteil des Küstenstreifens statt.
Good report on IDF’s completion of the Netzarim Corridor road, but the corridor is much more than just the road. It’s effectively a 2km-wide forward operating base—currently home to an infantry brigade and armor brigade—to which Gazans who lived there will not be able to return https://t.co/fj6Zg5hogv pic.twitter.com/5boLUvwYUS
— Wesley Morgan (@wesleysmorgan) March 11, 2024
Katar, Ägypten und die USA vermitteln die bisher einzige offizielle Waffenruhe, die am 24. November in Kraft tritt. Die Hamas lässt innerhalb einer Woche 80 Geiseln frei, darunter solche mit doppelter Staatsbürgerschaft. Israel entlässt im Gegenzug 240 Palästinenser aus der Haft. Zusätzlich kommen 25 Geiseln frei, die nicht israelische Staatsbürger sind – die meisten von ihnen Landarbeiter aus Thailand. Die Kämpfe flammen kurz danach wieder auf, nachdem die Hamas Israel erneut mit Raketen beschossen hat.
Nachdem Südafrika beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag (IGH) Klage eingereicht hat, fordert das Gremium Israel auf, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um beim Vorgehen gegen die Hamas im Gazastreifen einen «Völkermord» zu verhindern. Der IGH fordert Israel jedoch nicht dazu auf, den Militäreinsatz im Gazastreifen zu beenden, wie Südafrika es verlangt hat. Hingegen weist das höchste UNO-Gericht das von Südafrika angestrengte Völkermord-Verfahren nicht wie von der israelischen Regierung beantragt zurück.
Bei der Verteilung von Hilfsgütern in Gaza-Stadt kommt es zu einer Massenpanik, als israelische Soldaten das Feuer eröffnen. Nach Angaben der Hamas werden 120 Menschen durch die israelische Armee getötet; diese wiederum versichert, die Soldaten hätten auf «eine Gefahr» reagiert und deshalb geschossen. Die meisten Opfer seien von der Menge zertrampelt oder von den Lastwagen überrollt worden.
Ab März beginnen die USA und weitere Länder mit dem Abwurf von Hilfspaketen über dem Gazastreifen.
Sieben Mitarbeiter einer internationalen Hilfsorganisation kommen ums Leben, als ihre Fahrzeuge durch eine israelische Rakete getroffen werden. Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu spricht von einem «unbeabsichtigten» Angriff, die Hilfsorganisation von einem «gezielten» Anschlag.
Zum ersten Mal greift der Iran Israel direkt von seinem Staatsgebiet aus an. Während der Nacht feuert die Islamische Republik mehr als 300 Drohnen und Raketen ab; die meisten werden von der israelischen Luftabwehr – mit Unterstützung der westlichen Verbündeten und Jordaniens – noch ausserhalb des israelischen Staatsgebiets abgeschossen. Teheran bezeichnet den Angriff als Vergeltung für die Tötung von sieben hochrangigen iranischen Revolutionsgardisten in der syrischen Hauptstadt Damaskus, die Israel zugeschrieben wird.
Israel schlägt wenige Tage später zurück: Eine Militärbasis nahe bei Isfahan tief im Landesinneren des Iran wird beschossen. Die israelische Reaktion ist jedoch vergleichsweise moderat – ein offener Krieg zwischen den beiden Regionalmächten kommt weder Jerusalem noch Teheran gelegen.
Die israelische Armee geht mit «gezielten» Angriffen in der Stadt Rafah vor, die im Süden des Gazastreifens an der ägyptischen Grenze liegt. Ziel der Offensive ist die Zerschlagung der letzten verbliebenen Bataillone der Hamas. Israel fordert rund 100'000 Palästinenser des östlichen Teils von Rafah auf, die Stadt zu verlassen und sich in das nördlich gelegene Al-Mawasi-Lager zu begeben. Damit verschärft sich die ohnehin prekäre Lage der Zivilbevölkerung, die bereits zu einem grossen Teil aus Binnenflüchtlingen besteht.
Die israelische Armee bringt in der Folge den Grenzübergang nach Ägypten und schliesslich den gesamten Grenzbereich – den sogenannten Philadelphi-Korridor – unter ihre Kontrolle. Sie will damit den Schmuggel von Waffen in den Gazastreifen unterbinden.
Zehntausende von Demonstranten protestieren in Israel gegen die Regierung, der vorgeworfen wird, nichts für die Freilassung der verschleppten Geiseln zu unternehmen. Die Demonstranten – allein in Tel Aviv rund 120'000 Menschen – fordern zudem Neuwahlen. Auch Soldaten der israelischen Armee, welche die israelische Kriegsführung unter anderem als «unmoralisch» kritisieren, nehmen an den Kundgebungen teil.
Der Politiker der liberalkonservativen Partei Kachol Lavan Chosen LeJisra’el und ehemalige Offizier Benny Gantz, der seit Oktober als Minister ohne Geschäftsbereich dem parteiübergreifenden Kriegskabinett angehörte, verlässt dieses zusammen mit dem ehemaligen Generalstabschef Gadi Eisenkot. Gantz hatte Ministerpräsident Netanjahu zuvor ein Ultimatum gestellt, einen Nachkriegsplan für den Gazastreifen zu präsentieren. Netanjahu liess das Ultimatum verstreichen, ohne einen solchen Plan vorzulegen.
Die israelische Luftwaffe führt einen Angriff auf das als «humanitäre Schutzzone» ausgewiesene Gebiet um Al-Mawasi aus. Ziel der Attacke: Mohammed Deif, Befehlshaber des militärischen Flügels der Hamas, und Rafa Salama, Kommandant der Kassam-Brigaden in der Stadt Chan Junis. Nach Angaben der Hamas fordert der Luftangriff 90 Tote und etwa 300 Verletzte. Während der Tod Salamas bestätigt wird, behauptet die Hamas, Deif sei unversehrt geblieben. Die israelischen Streitkräfte geben aber am 1. August bekannt, Deif sei getötet worden.
Eine von der Huthi-Miliz im Jemen, 1800 Kilometer von Israel entfernt, abgefeuerte Drohne aus iranischer Produktion explodiert in Tel Aviv. Ein Zivilist stirbt, acht weitere werden verletzt. Die Drohne wurde aufgrund «menschlichen Versagens» nicht abgefangen, erklärt ein israelischer Militärsprecher. Zuvor wurden nahezu sämtliche von den Huthis auf Israel abgefeuerten Geschosse abgefangen. Die Huthis, eine schiitische, mit dem Iran verbündete Miliz, haben seit Beginn des Gazakriegs Drohnen und Raketen auf Israel abgefeuert und zudem die Schifffahrt im Bab El-Mandeb, dem Zugang zum Roten Meer, attackiert. Damit bilden sie eine weitere Front gegen Israel.
Die israelische Luftwaffe führt am 20. Juli einen Vergeltungsangriff auf die von den Huthis kontrollierte jemenitische Hafenstadt Hudaida durch.
In der überwiegend von Drusen bewohnten Kleinstadt Madschdal Schams auf den von Israel annektierten Golanhöhen schlägt auf einem Fussballfeld eine Rakete ein, die vermutlich von der Hisbollah abgefeuert wurde. Zwölf Kinder und Jugendliche kommen ums Leben.
Bei einem Anschlag in Teheran wird Ismail Hanija getötet, der seit 2017 das Hamas-Politbüro leitete. Hanija hielt sich in Teheran auf, um an der Vereidigungszeremonie des neuen iranischen Präsidenten Massud Peseschkian teilzunehmen. Die Tötung des bisher ranghöchsten Hamas-Funktionärs ausgerechnet in der iranischen Hauptstadt ist eine Demütigung des Mullah-Regimes.
Nur einen Tag zuvor hat die israelische Armee zudem in Beirut einen hochrangigen Kommandanten der Hisbollah, Fuad Schukr, bei einem Luftangriff getötet.
Angesichts eskalierender regionaler Spannungen verstärkt das Pentagon die amerikanische Militärpräsenz im Nahen Osten. Verteidigungsminister Lloyd Austin befiehlt die Verlegung des Atom-U-Boots «USS Georgia» in die Region. Zudem sollen der Flugzeugträger «USS Abraham Lincoln» und seine Begleitschiffe schneller zu der bereits vor Ort befindlichen Flugzeugträgerkampfgruppe um die «USS Theodore Roosevelt» stossen.
Die USA haben derzeit gegen 40'000 Soldatinnen und Soldaten im Nahen Osten stationiert, auf Stützpunkten in Kuwait, Bahrain, Katar, den Vereinigten Arabischen Emiraten und in weiteren Ländern.
Aus Tunneln unter Rafah birgt die israelische Armee die Leichen von sechs israelischen Geiseln, von denen fünf beim Angriff auf das Supernova-Festival entführt wurden. Während die Hamas erklärt, die Geiseln seien bei einem israelischen Luftangriff ums Leben gekommen, zeigen Obduktionen laut israelischen Angaben, dass alle sechs in den Tagen zuvor aus nächster Nähe erschossen wurden.
Bei einem mutmasslich von Israel koordinierten Angriff im Libanon und in Syrien explodieren Pager der Hisbollah; in einer zweiten Welle am folgenden Tag explodieren auch Walkie-Talkies, Smartphones, Radios oder Autobatterien. Nach libanesischen Angaben werden durch die Pager-Detonationen 2750 Menschen verletzt und 31 – darunter drei Kinder – getötet. Der Angriff schwächt die Hisbollah, die diese Geräte eigens angeschafft hat, um mit ihnen zu kommunizieren, ohne dass sie geortet werden können. Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah kündigt am 19. September Vergeltung gegen Israel an.
Die israelische Luftwaffe fliegt einen massiven Bombenangriff auf südliche Vororte von Beirut und trifft dabei nach eigenen Angaben das Hauptquartier der Hisbollah. Hisbollah-Anführer Hassan Nasrallah kommt dabei ums Leben, daneben auch mehrere hochrangige Hisbollah-Kommandanten. Die Terrormiliz ist mittlerweile nahezu führungslos. Der Tod des vom Iran protegierten langjährigen Hisbollah-Chefs ist eine weitere Demütigung für Teheran.
Am Abend beginnt die israelische Bodenoffensive im Libanon; mechanisierte Truppen überschreiten die Grenze und dringen in den Süden des Nachbarlandes vor. Ziel der Offensive ist, die Hisbollah aus dem Südlibanon zu vertreiben und zum Rückzug hinter den Litani-Fluss zu zwingen. Damit soll die Rückkehr der aus dem Norden Israels evakuierten rund 60'000 Einwohner in ihre Häuser möglich werden.
Nicht einmal 24 Stunden nach dem Beginn der israelischen Bodenoffensive im Libanon attackiert der Iran das Land mit 180 Raketen. Der Angriff gilt als Vergeltung für die Tötung hochrangiger Führungspersonen der mit dem Iran verbündeten Hamas und Hisbollah, darunter Ismail Hanija und Hassan Nasrallah. Wie bereits im April kann die israelische Raketenabwehr, unterstützt von Verbündeten und Jordanien, einen Grossteil der Geschosse eliminieren. Einziges Todesopfer ist ein Palästinenser im Westjordanland. Nach dem Angriff droht der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu dem Iran umgehend mit Vergeltung.
Ein Jahr nach dem 7. Oktober 2023 ist die Lage im Nahen Osten brisant. Nach den Eskalationen der letzten Wochen droht ein umfassender israelisch-iranischer Krieg. Die Hamas im Gazastreifen scheint durch die israelische Offensive stark geschwächt zu sein und hat mehrere wichtige Anführer verloren. Derzeit sieht es aber nicht so aus, als ob die Terrororganisation zerschlagen wäre. Auch die Hisbollah im Libanon musste herbe Schläge einstecken, ist aber nach wie vor in der Lage, Raketen auf Israel abzufeuern. Das iranische Mullah-Regime in Teheran musste zusehen, wie seine verbündeten Milizen, die Hamas und die Hisbollah, von Israel in Bedrängnis gebracht wurden.
Für die Zivilbevölkerung im Gazastreifen und mittlerweile auch im Südlibanon haben sich die Terrorangriffe der Hamas beziehungsweise der Hisbollah verheerend ausgewirkt. Im Gazastreifen sind nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums mehr als 41'000 Menschen umgekommen, fast 100'000 wurden verletzt. Hunderttausende sind innerhalb des kleinen Küstenstreifens auf der Flucht; Wohnhäuser sind grossflächig zerstört. Die Versorgungslage ist katastrophal, auch wenn sich die Befürchtungen vom Frühjahr, es werde zu einer Hungersnot kommen, nicht bewahrheitet haben. Auch im Libanon sind nun Zehntausende auf der Flucht, und die Zahl der Toten und Verletzten, auch unter der Zivilbevölkerung, steigt schnell an.