In der deutschen Politik gab es schon immer einen Hang zur Übertreibung. Besonders in einem Fall ging das bekanntlich ganz übel aus. Was sich aber am Mittwoch im Bundestag abspielte, kann tatsächlich als Tabubruch bezeichnet werden. Erstmals konnte ein Antrag nur verabschiedet werden, weil ihm die Abgeordneten der AfD zugestimmt hatten.
Es ging um den Fünf-Punkte-Plan von CDU-Chef und Kanzlerkandidat Friedrich Merz für eine Verschärfung der Asylpolitik. In den Reihen der AfD brach Jubel aus. Endlich schien die Brandmauer gegenüber der in Teilen rechtsextremen Partei gefallen zu sein. Während Merz von linksgrüner Seite vorgeworfen wurde, er habe quasi das Tor zur Hölle geöffnet.
«So darf Merz nicht weitermachen», schrieb der linksliberale «Spiegel». Umgekehrt tönte es von der «Bild», die sich als Stimme des gesunden Volksempfindens sieht: «Diese Klarheit ist Gold für die Demokratie», meinte die Chefredaktorin. Endlich wisse man, wer wo stehe. Sie bedauerte einzig, dass die Abstimmung am gleichen Tag wie eine Holocaust-Gedenkstunde stattfand.
Denn die AfD ist keine normale Partei. In ihren Reihen tummeln sich Exponenten, die einen dicken Schlussstrich unter die Nazi-Vergangenheit ziehen und das Holocaust-Mahnmal in Berlin wohl am liebsten plattmachen wollen. Selbst die in der Schweiz gerne verharmloste Co-Chefin Alice Weidel fiel zuletzt mit einem inakzeptablen Hitler-Vergleich auf.
Was aber bedeutet der Entscheid vom Mittwoch konkret?
Erst einmal gar nichts. Es handelt sich um eine unverbindliche Aufforderung an die Regierung, ähnlich einem Postulat in der Schweizer Politik. Der Antrag hat keine konkreten Folgen, und der Bundestag ist nur noch pro forma aktiv. Nach den Wahlen in etwas mehr als drei Wochen werden die Karten neu gemischt. Trotzdem sind Konsequenzen absehbar.
Friedrich Merz bemühte sich in den «Tagesthemen» um Schadensbegrenzung. Man habe vor der Abstimmung nicht mit der AfD gesprochen: «Es gibt keine Zusammenarbeit zwischen Union und AfD. Und da können jetzt AfD-Leute triumphieren, wie sie wollen.» Der CDU-Chef erneuerte sein Gesprächsangebot an SPD, Grüne und FDP.
Es geht um einen weiteren Antrag zur «Zustrombegrenzung», über den am Freitag abgestimmt werden soll. Er ist als konkreter Gesetzesentwurf formuliert, etwa wie eine parlamentarische Initiative in der Schweiz. Braucht Merz erneut die AfD, wäre die Signalwirkung weit stärker, selbst wenn das Gesetz vor den Wahlen kaum in Kraft treten würde.
Die Gefahr besteht ohnehin, dass bei der Bundestagswahl vor allem die AfD profitieren wird. Sie kann ihren «Triumph» ausschlachten, ein Ergebnis von deutlich über 20 Prozent wird wahrscheinlich. Eine Regierungsbildung könnte schwierig werden, vor allem weil unklar ist, ob FDP, Linke und BSW den Einzug in den Bundestag schaffen werden.
Je nach Abschneiden dieser drei Parteien könnte eine Regierungsbildung enorm schwierig werden, vor allem wenn die AfD ein starkes Ergebnis erzielt. Eine Koalition mit den Rechtsradikalen hat Friedrich Merz kategorisch ausgeschlossen. Nicht aus Überzeugung: Selbst eine von der AfD gestützte Minderheitsregierung würde die CDU zerreissen, bis zum totalen Bruch.
Wahrscheinlich ist deshalb eine schwarz-rote oder schwarz-grüne Regierung. Wobei letztere schwierig wird. Die Grünen gelten beim Thema Migration als «unbelehrbar». Kürzlich sorgte Bundestags-Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt im ARD-Talk «Hart aber Fair» mit der Aussage für Aufruhr, Migration habe «mit dem Alltag der Menschen verdammt wenig zu tun».
Nach dem Messerangriff im bayerischen Aschaffenburg wirkt dies abgehoben. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann bezeichnete Göring-Eckardts Aussage gegenüber «Bild» als «Beleg für Realitätsferne». Es sind schlechte Aussichten für eine mögliche Koalition, obwohl die Grünen für die Union etwa in der Wirtschafts- und Sozialpolitik durchaus ein Partner sein könnten.
CSU-Chef Markus Söder schliesst eine schwarz-grüne Regierung seit Monaten kategorisch aus. Es dürfte auf die nicht mehr so grosse Koalition von Union und SPD hinauslaufen (das Abschneiden der kleineren Parteien vorbehalten). Es ist absehbar, dass man sich trotz der heftigen Dissonanzen während und nach der Debatte vom Mittwoch zusammenraufen wird.
Zwar sagte Bundeskanzler Olaf Scholz am Mittwochabend bei «Maischberger», er könne Friedrich Merz «nicht mehr trauen». Nach der praktisch sicheren Niederlage der SPD wird er als abgehalfterter Ex-Kanzler in einer neuen Regierung jedoch keine Rolle mehr spielen. Sicher aber ist: Der Tabubruch vom Mittwoch wird die deutsche Politik verändern.
Würden die vernünftigen Parteien das endlich einsehen und in der Migrationspolitik entsprechend handeln, wäre die Wählerabwanderung zu den Rechten sicher massiv kleiner.