Nach dreieinhalb Jahren, in denen erbittert gestritten wurde, ist es so weit: Am Freitag um 23 Uhr Ortszeit endet die Mitgliedschaft Grossbritanniens in der Europäischen Union. Die britische Regierung hat den Austrittsvertrag ratifiziert. Am Mittwoch stimmte das EU-Parlament darüber ab, und am Donnerstag werden die EU-Regierungen den Brexit definitiv besiegeln.
Während in Brüssel und in den EU-Hauptstädten eine gewisse Wehmut herrscht, können die Brexit-Hardliner den grossen Tag kaum erwarten. Nigel Farage will vor dem Parlament in London eine Party feiern. Für das erhoffte Feuerwerk erhielt er allerdings keine Bewilligung. Auch aus dem Wunsch, den EU-Austritt mit der Parlamentsglocke Big Ben einzuläuten, wird nichts.
Der Elizabeth Tower des Westminster Palace, aus dem der legendäre Glockenschlag ertönt, wird gerade renoviert. Big Ben ist verstummt. Eine temporäre Inbetriebnahme hätte rund 500'000 Pfund gekostet, und die Parlamentsverwaltung lehnte es ab, für eine solche Hauruck-Übung Hand zu bieten. Nun muss das Geläut wohl aus dem Lautsprecher erfolgen.
Premierminister Boris Johnson, der die Unterhauswahl im Dezember mit dem Slogan «Get Brexit Done» gewonnen hatte, wird sich in einer Fernsehansprache an die Bevölkerung wenden und sie laut britischen Medien zur Einheit aufrufen. Das dürfte ein frommer Wunsch bleiben. Die heftige und gehässige Auseinandersetzung um den EU-Austritt hat das Königreich tief gespalten.
Nun soll der Begriff Brexit nach dem Willen von Johnson aus dem Vokabular getilgt und das entsprechende Ministerium im Februar aufgelöst werden. Der konservative Premier hat seinen Landsleuten das Blaue vom Himmel versprochen. Wenn Britannien erst einmal von den «Fesseln» der EU befreit sei, beginne eine Art «goldenes Zeitalter» des Handels mit der ganzen Welt.
Die Realität dürfte sich als wesentlich komplizierter erweisen. So muss Johnson erst noch zeigen, wie er seine teuren Wahlversprechen umsetzen und bezahlen kann. Er will Milliarden investieren, in den Nationalen Gesundheitsdienst NHS oder die wirtschaftlich abgehängten Gebiete im Norden Englands, in denen Tories der Labour-Partei zahlreiche Sitze abjagen konnten.
Auch in der schönen neuen Post-EU-Welt lauern einige Stolpersteine:
Die Briten treten am Freitag formell aus der EU aus. Das aber betrifft nur die politische Union. Wirtschaftlich bleiben sie vorerst im Binnenmarkt und in der Zollunion. Bis Ende Jahr läuft eine Übergangsfrist, in der das künftige Verhältnis ausgehandelt werden soll. Boris Johnson schwebt ein erweitertes Freihandelsabkommen vor. Seine konkreten Pläne will er im Februar präsentieren.
Eine Verlängerung der Übergangsfrist will der Premier keinesfalls akzeptieren. Damit bleibt sehr wenig Zeit für ein derart ambitioniertes Vorhaben. EU-Chefunterhändler Michel Barnier, der weiterhin für das Dossier zuständig ist, warnte kürzlich, man werde in den wenigen Monaten wohl höchstens eine Art «Rahmenvertrag» zu den wichtigsten Punkten abschliessen können.
Detailfragen sollen anschliessend geregelt werden. Die EU hat klargemacht, dass die Briten sich auch in Zukunft an ihre sozialen, ökologischen und wettbewerbsrechtlichen Vorgaben halten sollen. Das ist den neoliberalen Hardlinern um Finanzminister Sajid Javeed ein Dorn im Auge. Sie wollen das Königreich in ein Singapur mit tiefen Steuern und wenig Regulierungen verwandeln.
Dafür scheinen sie einen vertragslosen Zustand mit der EU in Kauf zu nehmen. Er könnte das Ende der Autoindustrie bedeuten, die auf einen reibungslosen Austausch mit dem europäischen Markt angewiesen ist. Betroffen wäre auch der Import und Export von Lebensmitteln, was nicht nur die kontinentale Landwirtschaft treffen würde, sondern auch britische Bauern und Fischer.
Johnson und seine Regierung wollen Freihandelsverträge mit zahlreichen Ländern abschliessen. Im Vordergrund stehen die USA. Präsident Donald Trump hat den Brexit schamlos begrüsst. Gar keine Freude hat seine Regierung jedoch am Entscheid der britischen Regierung vom Dienstag, den chinesischen Konzern Huawei am Aufbau des britischen 5G-Netzes zu beteiligen.
Für die US-Regierung ist Huawei ein Einfallstor für chinesische Spionage. Aussenminister Dominic Raab versuchte, die Befürchtungen zu zerstreuen. So soll Huawei von heiklen Einrichtungen wie Militäranlagen und Atomkraftwerken ausgesperrt bleiben. Der einflussreiche US-Senator Tom Cotton zeigte sich dennoch empört und forderte eine Überprüfung der geheimdienstlichen Zusammenarbeit.
This decision is deeply disappointing for American supporters of the Special Relationship. I fear London has freed itself from Brussels only to cede sovereignty to Beijing. https://t.co/JBU4ARQLjs
— Tom Cotton (@SenTomCotton) January 28, 2020
Ärger bahnt sich auch in einem anderen Bereich an: US-Finanzminister Steve Mnuchin hat am WEF in Davos mit Strafzöllen auf in Britannien produzierte Autos gedroht für den Fall, dass Boris Johnson an der «Digitalsteuer» festhält, die ab April gelten und vorab US-Konzerne wie Google und Facebook erfassen soll. Bislang bleibt die britische Regierung hart.
Im Königreich ist der Brexit ebenfalls nicht ausgestanden. In Schottland, das 2016 klar für den Verbleib in der EU gestimmt hatte, wollen sich die proeuropäischen Nationalisten mit dem Austritt nicht einfach abfinden. So will sich Regierungschefin Nicola Sturgeon dafür einsetzen, dass die EU-Flagge auch in Zukunft vor dem Parlament in Edinburgh hängen wird.
Weiter verlangt Sturgeon, dass Schottland eine souveräne und grosszügige Einwanderungspolitik betreiben kann. Boris Johnson will ein Punktesystem nach dem Vorbild von Australien oder Kanada einführen, das Experten sehr kritisch beurteilen. Und schliesslich will Nicola Sturgeon die Vorbereitungen für eine zweite Abstimmung über die Unabhängigkeit Schottlands vorantreiben.
Johnson hat ein solches Referendum kategorisch ausgeschlossen. Ein einseitiges Vorgehen der Schotten ohne Zustimmung der Regierung in London dürfte einen schweren Verfassungskonflikt auslösen. «Separatistische» Töne sind vermehrt auch aus Nordirland zu vernehmen. Dort ergab eine Umfrage kürzlich erstmals eine Mehrheit für die Vereinigung mit der Republik Irland.
Mit dem formellen Austritt am Freitag ist das letzte Kapitel beim Brexit somit längst nicht geschrieben. Ein Zerfall des Vereinigten Königreichs bleibt ein realistisches Szenario, und der Abschluss von neuen Handelsverträgen ist leichter gesagt als getan. Boris Johnson mag das Wort nicht mehr hören wollen, doch der EU-Austritt dürfte tatsächlich zur «Brexiternity» werden.
Mit dem Unterschied, dass GB jetzt zwar irgendwie ausserhalb der EU ist, aber immer noch sämtliche Verpflichtungen, Normen, Reglen etc.. einhalten muss.
Super gmacht!
Sie wird weit mehr Verlierer als Gewinner hervorbringen.
Wer einigermassen realistisch die enormen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten in Betracht zieht, sieht, dass die Versprechen und Hoffnungen eine Illusion sind.
Johnson ist alles andere als dumm. Er pokert jedoch sehr hoch.
Die Zeche aber werden alle bezahlen, allen voran der wortwörtliche Mann auf der Strasse.
Johnson ist nicht nur ein charismatischer Schwätzer, sondern gefährlich.