In Kolumbien liefern sich Sicherheitskräfte und Demonstranten seit Tagen heftige Gefechte. Berichten zufolge gab es bislang 19 Todesopfer und mehrere hundert Verletzte. Bei den Todesopfern soll es sich um 18 Zivilisten und einen Polizisten handeln. Die Zahl der Todesfälle wurde bislang jedoch nicht offiziell bestätigt.
Mittlerweile hat sich auch die UN eingeschaltet: «Wir sind äusserst besorgt über die Informationen, die wir heute über eine unbestätigte Anzahl von getöteten und verletzten Menschen in Cali erhalten», schrieb Juliette de Rivero, Vertreterin der UN-Hochkommissariat für Menschenrechte in Kolumbien.
Estamos profundamente alarmados por los acontecimientos ocurridos en la ciudad de Cali, Colombia, la pasada noche 👇👇video con pronunciamiento de portavoz de la Alta Comisionada de la ONU Para los Derechos Humanos pic.twitter.com/xXeA7MIpeO
— ONU Derechos Humanos Colombia (@ONUHumanRights) May 4, 2021
Warum in Kolumbien so gewalttätig demonstriert wird? Wegen einer Steuerreform der Regierung, um auf die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie zu reagieren. Doch alles von Anfang:
Am 6. März 2020 kommunizierte das Gesundheitsamt in Bogotá den ersten offiziell bestätigten Fall von Covid-19 in Kolumbien. Seither erlebte das südamerikanische Land drei Wellen, eine erste im Juni, eine zweite im Januar und die bisher schlimmste seit April. Die WHO vermeldet für das Land bisher knapp 75'000 Covid-Tote und fast drei Millionen Ansteckungen. Das entspricht etwa 30 Prozent mehr Todesfällen pro Einwohner als in der Schweiz.
Die Regierung antwortete mit Lockdowns und regional sogar mit Ausgangssperren auf die steigenden Zahlen. Wirtschaftlich hinterliess die Pandemie bislang ebenfalls massive Schäden. Die Arbeitslosenquote schoss auf 20 Prozent und das Bruttoinlandprodukt (BIP) sank nach der ersten Welle um fast 16 Prozent. Dies ist für Kolumbien die höchste gemessene Rezession der letzten 100 Jahre.
Auf diesen wirtschaftlichen Rückgang reagierte die Regierung nun Mitte April mit einer Steuerreform. Sie soll die Löcher in der öffentlichen Verwaltung stopfen, die die Pandemie gerissen hatte. Die grosse Frage: Wen treffen die Steuererhöhungen?
Eigentlich alle. Zwar wird die Reform als eher progressiv eingeschätzt, da Gutverdiener überproportional mehr betroffen sind als andere. Ausserdem sollten mit der Reform unökologische Fahrzeuge und Abfall höher besteuert werden. Doch auch die Anzahl der Steuerzahler soll erhöht werden.
So wären neu auch viele ärmere Kolumbianer steuerpflichtig geworden und die Mehrwertsteuer hätte ebenfalls auf weitere Produkte ausgedehnt werden sollen. «The Bogota Post» beschrieb die Reform denn auch als «eine bis zum Bersten gefüllte Steuer-Empanada.»
Damit sind die Leute unzufrieden. Den Parteien auf der linken Seite ist die Steuerlast zu ungerecht auf Ärmere verteilt, die neoliberalen Parteien echauffieren sich über die Steuererhöhung für Reiche und die Mittelschicht befürchtet, durch die neue Steuerbelastung in die Armut abzudriften. Seither demonstrieren jedes Wochenende Zehntausende in den grössten Städten Kolumbiens.
Die heftigen Auseinandersetzungen werden aus der drittgrössten Stadt Kolumbiens, Cali, gemeldet. Strassensperren wurden errichtet und zahlreiche Gebäude beschädigt. Die Polizei habe auf die Demonstranten geschossen. Diese Information ist offiziell nicht bestätigt. Gemäss lokalen Medienberichten wurden mindestens fünf Menschen getötet. Die UN zeigt sich angesichts der Entwicklung in Cali «sehr besorgt» angesichts der Gewalt gegen Zivilisten, wie sie am Dienstag mitteilte.
Die Regierung wiederum macht die linke Rebellengruppierung der Nationalen Befreiungsarmee (ELN) und Dissidentenfraktionen der Farc-Guerilla-Gruppe, die das Friedensabkommen von 2016 nicht akzeptierten, für die Gewalt-Eskalation verantwortlich. «Die Gewalt war systematisch, vorsätzlich und wurde von kriminellen Organisationen finanziert», sagte Verteidigungsminister Diego Molano.
Anfang Mai schickte die Regierung schliesslich die Armee auf die Strasse, zog die Steuerreform aber gleichzeitig zurück. «Ich bitte den Kongress, das vom Finanzministerium eingebrachte Projekt zu den Akten zu legen und schnellstmöglich ein neues Projekt zu bearbeiten, um finanzielle Unsicherheit zu vermeiden», sagte Präsident Iván Duque am Sonntag.
Dies reichte jedoch nicht, um die Proteste und die Gewalt zu stoppen.
Mittlerweile hat auch Wirtschaftsminister Dr. Alberto Carrasquilla seinen Posten geräumt. Ob dies die Demonstranten besänftigt, bleibt abzuwarten. Das Problem: Die Missgunst der Bevölkerung richtet sich in erster Linie nicht explizit gegen die höhere Steuerlast, sondern gegen die Korruption in der Regierung. Niemand ist bereit, höhere Steuern zu bezahlen, wenn diese in undurchsichtigen Regierungsinstitutionen versickern. (leo)