In der Woche des 13. Februars ist es jeweils so weit. Rechtsextreme marschieren durch die Dresdner Innenstadt, singen Protestlieder und schwingen Fahnen.
Eigentlich gedenkt Dresden in diesen Tagen den 25'000 Todesopfern, die 1945 bei den Luftangriffen der Alliierten ums Leben kamen. Doch seit den 1990er-Jahren instrumentalisieren Neonazis das Datum für ihre geschichtsrevisionistische Propaganda. Seit 2005 gelten diese sogenannten «Trauermärsche» gar als grösster Naziaufmarsch Europas.
In diesem Jahr sind besonders viele Rechtsextreme erwartet worden. Aus zwei Gründen: Der Angriff auf Dresden jährt sich zum 80. Mal und Deutschland steht kurz vor der Bundestagswahl. Einer Bundestagswahl, bei der voraussichtlich eine Partei zweitstärkste Kraft wird, deren einflussreichstes Mitglied – Björn Höcke – bereits an den Trauermärschen in Dresden teilgenommen hat: die AfD.
Aus diesem Grund treffen sich an diesem 13. Februar vier Frauen in einem kleinen Café in der Dresdner Innenstadt: Monika (70), Astrid (71), Sigrid (64) und Hanna* (56). Sie alle gehören der Bürgerinitiative «Omas gegen Rechts» an.
Das Café ist so etwas wie die Stammbeiz von Monika, Astrid und Sigrid. Im Keller dürfen sie ihre Flyer lagern. «Björn Höcke ist ein Faschist», steht auf einem. Auf den folgenden Seiten klären die «Omas gegen Rechts» über Höckes Ideologie auf.
Auf einem anderen Flyer listen sie auf, wofür ihre Bewegung steht: für Vielfalt und Toleranz, Demokratie, freiheitliches Denken, die Unantastbarkeit der Würde aller Menschen.
Mit diesen Papieren stehen die Frauen regelmässig in der Innenstadt, bei Stolpersteinen, unterrichten Passantinnen und Passanten über die Verbrechen der Nazis und darüber, was das mit der AfD zu tun hat, die in Sachsen inzwischen als gesichert rechtsextrem gilt.
Zudem sind sie jede Woche in verschiedenen Dresdner Stadtteilen unterwegs und ermutigen die Menschen, wählen zu gehen.
In dieser Woche werden sie sich jedoch anders engagieren: Sie werden am Samstag an der Gegendemonstration gegen den rechtsextremen Trauermarsch teilnehmen. Sich lautstark bemerkbar machen. Von den Rechtsextremen wird sie nur eine Reihe Polizeifahrzeuge trennen.
Monika, Astrid und Sigrid kennen sich durch ihr jahrelanges Engagement bei den «Omas gegen Rechts Dresden» gut. Hanna hingegen, die der Initiative erst kürzlich beigetreten ist, lernen sie heute erst kennen. Als sie zur Tür hereinkommt, macht sie sofort klar:
Hanna erklärt, sie wohne in einer kleinen Gemeinde in Ostsachsen. Dort würden Rechtsextreme inzwischen regelmässig Wahlstände anderer Parteien angreifen. «Habt ihr etwa das von Bautzen gehört gestern?», fragt Hanna in die Runde.
Am 12. Februar hat in Bautzen eine Gruppe Jugendlicher den Wahlstand der Linken angepöbelt und mit Böllern beworfen. Wie die Polizei mitteilt, soll ein Jugendlicher einem Linken gar mit der Faust ins Gesicht geschlagen haben. Hanna sagt:
«Nein, nein, du bist nicht paranoid», beschwichtigt sie Astrid. Anfeindungen gegen die «Omas gegen Rechts» hätten tatsächlich stark zugenommen, seitdem in Deutschland Wahlkampf herrsche. «Wir haben im Gegensatz zu dir den Vorteil, dass wir uns in die Anonymität der Grossstadt flüchten können», ergänzt Monika.
Deutschland befindet sich an einem Punkt, an dem sich Rechtsextreme sogar von friedlich demonstrierenden Grosis provoziert fühlen. Immer wieder müssen sich die Frauen Beleidigungen und Diffamierungen anhören.
Wenige Tage, nachdem sich die vier Frauen im Café getroffen haben, wird ein AfD-Landtagsabgeordneter die Aktivistinnen heftig beleidigen, indem er die «Omas gegen Rechts» an einer AfD-Kundgebung als «abgewrackte Schabracken» bezeichnet.
Der Hass gegen die «Omas gegen Rechts» erreicht ihr Ziel. «Ich beobachte zunehmend, dass die Leute, die sich rechts verorten, gar nicht mehr mit uns reden wollen, weil unser Ruf beschädigt ist», sagt Monika. Denn genau so funktionieren die «Omas gegen Rechts»: Sie wollen noch mit der anderen Seite reden. Sie verstehen. Sie darüber aufklären, wofür die AfD steht und was das Ganze mit der deutschen Vergangenheit zu tun hat.
«Ich frage die Leute jeweils, ob sie wissen, wie die AfD im Bundestag abstimmt», sagt Astrid. Es heisse ja immer, die AfD setze sich gegen die Elite und für die kleinen Leute ein. «Dabei ist das Gegenteil der Fall!»
Doch mit solchen Argumenten kommen die «Omas gegen Rechts» immer weniger gegen den Rechtspopulismus an. Die AfD hat es geschafft, das Vertrauen in Wissenschaft, Medien und Behörden zu untergraben. Sigrid sagt:
Ohnmächtig mache sie das. Überfordernd sei es. «Wie soll man als Demokratie noch miteinander umgehen, wenn man noch nicht mal die Realität oder die Fakten akzeptiert, von denen aus man natürlich unterschiedliche Schlüsse ziehen kann? Worüber sollen wir uns dann noch unterhalten? Über Stimmung? Über Meinung?», fragt Sigrid.
Die AfD stösst besonders im Osten Deutschlands auf grossen Zuspruch. Weshalb? Astrid, Monika und Sigrid erklären sich das mit der DDR und der Wiedervereinigung 1989. Letztere muss für viele Menschen im Osten eine Art Trauma hinterlassen haben, wie aus dem Gespräch mit den dreien deutlich wird. Ein Trauma, das entsteht, wenn alle Strukturen, die man sein Leben lang kannte, von einem Tag auf den anderen zerfallen.
Von einem Trauma möchten Astrid, Monika und Sigrid in Bezug auf ihr eigenes Leben nicht sprechen. Eher von einem Einschnitt. «Trotzdem wählen wir keine AfD», sagt Astrid. Ja, aber weshalb eigentlich nicht? Warum engagieren sie sich stattdessen gegen Rechtsextreme und die Ideologie der AfD?
Zum ersten Mal an diesem Nachmittag ist es ruhig am Tisch. Nicht, weil die Frauen nichts zu sagen haben, sondern weil sie gar nicht wissen, wo sie anfangen sollen. Schliesslich bricht Sigrid das Schweigen:
Sigrid erzählt, dass ihr Grossvater väterlicherseits ein überzeugter Christ gewesen sei. Die Ideologie der Nazis habe er deshalb nicht unterstützen können. Sein kleiner Protest sei es gewesen, die Hitlerfahne nicht aufzuhängen. «Dafür wurde er von seinen Diensten degradiert, durfte in seinem Beruf nicht mehr arbeiten.» Er und seine Frau hätten praktisch Selbstversorger sein müssen, weil sie keine Möglichkeit mehr gehabt hätten, anderweitig zu Geld zu kommen.
Vom anderen Grossvater wisse sie wenig. «Meine Grossmutter hat nur mitbekommen, dass er von der Wehrmacht desertiert ist. Dann ist er verschwunden und sie sass alleine mit fünf Kindern daheim.»
Hannas Mutter hat ihr die Geschichte ihrer Grossmutter erzählt, die dank der berühmten Luftbrücke der Alliierten, die von Juni 1948 bis Mai 1949 bestand, überleben konnte.
Ausserdem war Hannas Grossmutter in einer Widerstandsgruppe namens Rote Kapelle aktiv. Als sie mit Hannas Mutter 1940 schwanger wurde, schloss die Rote Kapelle sie von jeglichen Aktivitäten aus. Die Begründung:
Dieser Ausschluss hat beiden das Leben gerettet. Ende Dezember 1942 haben die Nazis sämtliche Mitglieder der Widerstandsgruppe ermordet.
Hanna sagt: «Diesen beiden, über Leben und Tod entscheidenden Ereignissen, habe ich zu verdanken, dass ich überhaupt da bin.» Deswegen wolle sie sich in der Tradition ihrer Grossmutter nun selbst für Demokratie und die Freiheit der jüngeren Generationen einsetzen.
Monikas Grossvater väterlicherseits war Pfarrer und Mitglied der Bekennenden Kirche, die aktiv Widerstand leistete und sich von den Deutschen Christen abgrenzte.
Da ihr Grossvater das ihm auferlegte Reichsredeverbot nicht einhielt, wurde er immer wieder verhaftet und verbrachte viele Jahre in den Gefängnissen der Nazis. Von dort schrieb er Ermutigungsbriefe an die Gemeinde, die seine Frau und seine Kinder verteilten.
Ihre Familie mütterlicherseits hatte ganz andere Erfahrungen gesammelt. Ihr Grossvater war Kaufmann und ist in den Zwanzigerjahren immer wieder pleitegegangen.
Die Familie hatte acht Kinder und war bitterarm, als Hitler an die Macht kam. Monika erzählt: «Mein Grossvater trat in die NSDAP ein, weil er hoffte, Arbeit zu bekommen. Kinderreiche Familien wurden erst einmal gefördert. Es gab eine (einmalige!) Zuwendung von 1000 Reichsmark.»
Damit kaufte er jedem Kind ein neues Kleid oder eine neue Hose und eine «ordentliche Butterstulle». Monika sagt:
Auch in Astrids Familie war die Nazizeit kein Tabu. Ihre Grossmutter soll sich als kleiner Protest oft geweigert haben, den Hitlergruss zu machen, wenn sie ein Geschäft betrat. Mehr aber auch nicht.
Den Terror und Horror unter Hitler bekamen aber selbst schweigende Bürgerinnen und Bürger zu spüren. Astrid erzählt:
Ihre Eltern hätten unter den Schuldgefühlen, sich nicht gegen diese Herrschaft aufgelehnt zu haben, ein Leben lang gelitten. Deshalb hätten sie in der Familie über das Thema sprechen wollen. Ganz bewusst.
Unter anderem wegen der Einstellung ihrer Eltern weiss Astrid heute, dass sie eine Grosstante gehabt hatte, die wegen ihrer Behinderung in der psychiatrischen Einrichtung Pirna-Sonnenstein untergebracht worden sei.
Die Grosstante sei 1936 gestorben, noch bevor die Nazis daraus eine Euthanasieanstalt machen und ihre Gaskammern an kranken und behinderten Menschen testen konnten. «Darum sagte man in der Familie immer: ‹Ein Glück ist die Tante schon so früh gestorben, so ist ihr so viel erspart geblieben›.»
Dass man in ihren Familien über die Nazizeit gesprochen hat, ist das, was die vier Frauen verbindet. Und das, was in Deutschland nicht die Regel ist, wie sie erzählen. Die meisten aus der Generation ihrer Eltern und Grosseltern hätten nach dem Krieg einfach alles vergessen wollen.
Sigrid sagt: «Die Historiker und Gelehrten haben die deutsche Vergangenheit zwar aufgearbeitet. Aber das war ein Eliteprojekt. In der Bevölkerung kam davon nichts an.» Die breite deutsche Gesellschaft habe alles totgeschwiegen und wisse deshalb noch immer viel zu wenig über dieses düstere Kapitel. Astrid ergänzt:
«Darum ist der AfD diese Erinnerungskultur auch so ein Dorn im Auge», betont Monika.
Haben die «Omas gegen Rechts» Angst vor dem Ausgang der Bundestagswahl am 23. Februar? Angst, dass die AfD vielleicht nicht bei diesen Wahlen, aber bei den nächsten an die Macht kommen könnte? «Ja, bei Hitler dachten schliesslich auch viele nicht, dass es so schnell gehen kann», sagt Hanna. «Gut, aber 1933 waren trotzdem nicht 250'000 Menschen aus dem Stand heraus auf den Strassen und protestierten», hält Astrid dagegen. Ihr ist es wichtig, zu betonen:
Eines dieser Hoffnungszeichen befindet sich zu diesem Zeitpunkt in der Dresdner Innenstadt: 10’000 Menschen halten sich an den Händen und bilden eine Menschenkette als Symbol gegen Krieg, Gewalt und gegen die Rechtsextremen, die den Tag mit Opfermythen vereinnahmen wollen.
Ein zweites Zeichen der Hoffnung verlässt bald dieses Café. Die vier «Omas gegen Rechts» packen ihre Flyer, Plakate, bunten Regenschirme und Sicherheitswesten. Sie treffen sich mit Gleichgesinnten auf einem grossen Platz in der Dresdner Innenstadt.
Am Samstag werden die Frauen wieder auf der Strasse sein. Wenn Rechtsextreme auf Gegendemonstranten stossen. Und die «Omas gegen Rechts» lautstark kundtun, dass sie deren Gesinnung niemals akzeptieren werden.
*Name von der Redaktion geändert.
Warum beschäftigt man sich nicht einmal mit dem Ansatz?
Ursachenbekämpfung ist immer zielführender als Symptombekämpfung.