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Eine Hand berührt mein Gesicht. Ein Handrücken meine Wange, eine Handfläche meinen Hals. Suher kontrolliert, ob ich warm bin. Ich werde die Hand der 50-jährigen Syrerin in dieser Nacht noch ein paar weitere Male auf mir spüren.
Sie zieht die Wolldecken über mir zurecht. Drei sind es und zwei zwischen meinem Körper und dem Boden. Ich trage Unterhemd, Shirt, Fleecejacke, Kapuzen-Mantel, Kappe und Jeans. Es nützt nichts. Die Kälte kriecht durch alle Kleiderschichten. Die Temperatur in dieser griechischen Nacht sinkt langsam auf 4 Grad.
Ich lausche Imats tiefer Stimme, die
auf Arabisch BBC-News vorliest. Er liegt direkt hinter Suher in dem
knapp zweieinhalb Quadratmeter grossen Zelt, das die UN-Flüchtlingsagentur UNHCR hier hingestellt hat. Ich habe das Paar am Nachmittag kennengelernt. Die News
betreffen Imat und Suher persönlich:
«Amnesty International kritisiert EU-Türkei-Deal als doppelzüngig ... Die EU sei offensichtlich determiniert, der Flüchtlingskrise ihren Rücken zuzukehren ... Tausende Flüchtlinge immer noch gestrandet in Idomeni ...»
Gerade eben ist der EU-Gipfel zur Flüchtlingskrise in Brüssel zu Ende gegangen. Von jetzt an nimmt die EU für jeden Flüchtling, der von Griechenland in die Türkei geschoben wird, einen Flüchtling aus der Türkei legal auf. Jetzt stehen die Chancen auf Asyl in Europa plötzlich dort besser, woher Suher und Imat in lebensgefährlicher Überfahrt hergekommen sind: in der Türkei.
«What's the news?», frage ich. «Sie haben gar nicht über uns geredet», sagt Suher. «Wir bleiben hier, bis die Grenze aufgeht.» Das tun Imat und Suher seit 20 Tagen. Obwohl ich weiss, wie unwahrscheinlich es ist, dass hier irgendetwas aufgeht, sage ich nichts.
Wie sehr ich mir am Ende meiner zwei Tage in Idomeni wünschen würde, dass einer der Gipfel-Teilnehmer herkommen und genau das den Menschen selber erklären würde, ahne ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Ich drehe mich der Zeltwand zu. Ein Generator rattert durch die Nacht, über Lautsprecher werden auf Arabisch vermisste Kinder ausgerufen. Babys schreien, ein Paar scheint sich zu streiten, immer wieder hustet irgendwer. Suhers Husten kommt tief aus ihrer Lunge.
Beim Einschlafen überschlagen sich in meinem Kopf Versatzstücke aus den Gesprächen, die ich an diesem Tag geführt habe: «Die Seuchengefahr ist enorm hier. Diese Felder sind voller Erbrochenem und Fäkalien. Die Ärzte ohne Grenzen sind komplett überlastet», sagte ein Volunteer aus der Schweiz zu mir. «Aber wie könnte ich diesen Menschen mit einer Atemmaske über dem Gesicht begegnen?»
Ich wühle mich tiefer in die Decken. Es brodelt im Camp. Das Frustpotenzial ist riesig. Die Menschen fühlen sich eingesperrt. Sie können weder vor noch zurück. Immer wieder gibt es Massenschlägereien. Beim Zaun protestieren wütende Jugendliche. Vorgestern prügelten Männer einen mutmasslichen Vergewaltiger tot.
Etwa 150 Volunteers hasten im Dauerstress durchs Camp, verteilen Schuhe, organisieren Decken, klopfen Schultern. Viele von ihnen sind auf eigene Kosten nach Idomeni gereist. Das Schweizerische Rote Kreuz ist nicht anwesend. Freiwillige fahren Ambulanz. Freiwillige organisieren Holz. Und Freiwillige spielen mit den Kindern. Oftmals bis sie selbst völlig erschöpft sind.
Entsprechend blank liegen die Nerven. «Treiben Helfer Flüchtlinge in den Tod?», stand am letzten Donnerstag im «Blick» und anderen internationalen Medien. Es macht die Helfer wütend. «Jetzt sollen wir, wir die Volunteers, die hier schuften, Schuld am Tod von Flüchtlingen sein?», fragte ein Helfer beinahe schreiend, als er mir davon erzählte.
Vor rund einer Woche waren rund 1000 Männer, Frauen und Kinder gemeinsam in Richtung Grenze losmarschiert, um sie illegal zu überqueren. Ein Flugblatt mit dem Absender «Kommando Norbert Blüm» – angeblich deutsche Anarchisten – soll sie dazu aufgefordert haben. Nach einer gefährlichen Flussüberquerung in Mazedonien angekommen, wurden die meisten Flüchtlinge verhaftet, geschlagen und zurückgeschafft. Drei Afghanen starben.
Im Camp weiss man: Die drei starben nicht an derselben Stelle und nicht zur selben Uhrzeit, wie die Flussüberquerung stattfand. Die Volunteers glauben an gezielte Falschinformation. «Wir, die freiwilligen Helfer, die die Menschenrechtsverletzungen hier anprangern, sind das grösste Problem der rechten Regierungen», sagte ein Helfer zu mir. Er rückte die Tasche über seiner Brust zurecht: «Safe Passage», stand darauf. Die Forderung nach dem sicheren Transit für Flüchtlinge.
Um sechs Uhr wecken mich meine Kniegelenke. Keine Position lindert den Schmerz. Ich muss unbedingt die Beine strecken – im kleinen Zelt unmöglich. Meine Hüfte zwickt, als ich mich aus dem Zelt zwänge. Es ist stockdunkel im Camp. Ich stolpere durch Matsch und dicken Nebel, über schlammige Decken, Kleider und Karton zur Kieselstrasse und auf die Bahngeleise. Bis gestern hat es zwei Wochen lang ununterbrochen geregnet.
Griechische Polizisten bewachen hier im Schichtbetrieb während 24 Stunden am Tag die Geleise. Das Bahntrassee bildet die einzige Lücke im Zaun. Wenn der Zug durch muss, sperren sie den Übergang. Waren dürfen passieren, Menschen nicht.
Der Grenzpolizist schiebt seine Atemmaske in mein Sichtfeld und drückt mir einen Zettel in die Hand. «Refugees must leave this Camp», steht auf dem Papier. Nach dem Gipfeltreffen sollen die Flüchtlinge von hier in andere Camps in Griechenland verteilt werden. Flüchtlinge, die ab dem 20. März auf Griechenland ankommen, werden automatisch rückgeschafft. Aber auch für die Flüchtlinge, die sich bereits auf griechischem Boden befinden, hat es kaum Platz, geschweige denn ausreichende Infrastruktur.
«Because this is not for humans», sagt der Polizist und zeigt in die Landschaft. Der griechische Innenminister hat das Flüchtlingscamp von Idomeni bloss noch «modernes Dachau» genannt.
Die Toi-Tois riecht man schon von weitem. Es gibt ungefähr 60 für rund 14'000 Menschen. Von den vier Duschen funktioniert im Moment nur eine. Und eine von fünf Wasserstationen muss für rund 3000 Menschen reichen. Frauen und Männer sind nirgendwo getrennt. «Warning», lese ich auf dem Spiegel an einem Lavabo-Container. «Sie sind der Gefahr ausgesetzt, ausgenutzt zu werden. Attraktive Angebote für Arbeit, Ausbildung, Heirat und Reisen könnten falsch sein». Der Aufkleber warnt vor Menschenhändlern. Neben mir wäscht eine Frau mit einem Baby auf dem Rücken Kleider. Ich lächle sie an, sie lächelt zurück.
Ich ziehe die Mütze über mein Gesicht und schlafe noch mal ein. Als ich erwache, rüttelt der Nordwind an unserem Zelt. Er bläst aus Mazedonien in Richtung Griechenland, als wolle auch er die Menschen zurück ins Landesinnere wehen. Doch diese Menschen wollen nicht zurück, sondern weiter nach Deutschland. Und sie haben fast nichts mehr zu verlieren, ausser der Hoffnung.
«Mach wieder zu!», sagt Suher, als ich das Zelt einen Spalt weit öffne. So als wolle sie die Welt noch für einen Moment draussen lassen. Wir bleiben zu dritt nebeneinander liegen. «This is our life!», ruft Imat und lacht hilflos.
Sie beginnen von ihrem Haus in Damaskus zu erzählen, von der grossen Dusche, die sie da hatten. Der 55-jährige Imat war Ingenieur beim Landwirtschaftsdepartement. Er züchtete Blumen. Suher unterrichtete Kinder in Handarbeit und Nähen. Sie liebte es, die Möbel im Haus umzustellen. So dass Imat manchmal nach Hause kam und nichts mehr finden konnte.
Suher kichert, als sie von ihrem wunderschönen Mantel erzählt, den sie auf die Flucht mitgenommen hat, einem beigenen Mantel aus feiner persischer Wolle und mit Borten aus Leoparden-Muster. Er liegt jetzt auf dem Grund des Meeres.
Imat und Suher setzten mit dem Boot über, vom türkischen Didim nach Santorini – nachdem sie fünf Wochen warten mussten. 1000 Euro bezahlten sie dem Schlepper für einen Platz auf einem Boot für 30 Personen. Am Ende sassen 67 drin – dafür mussten alle das Gepäck zurücklassen. Volunteers empfingen sie. «Sie waren sehr freundlich», sagt Suher, «sie gaben uns Zahnbürsten, Shampoo und Suppe».
Später wurden sie per Schiff nach Rhodos transportiert, wo sie in der Notunterkunft, einer alten Metzgerei, eine tote Ratte unter den Matratzen fanden. Von Rhodos ging es weiter nach Athen und von Athen nach Idomeni. Der Busfahrer hat sein Versprechen nicht gehalten und sie schon 24 Kilometer vorher rausgestellt. Sie mussten fünf Stunden laufen. Den beiden bleiben jetzt noch 400 Euro.
Suher besitzt nur noch die Kleider an ihrem Körper: BH, Slip, Unterhemd, Jeans, Pulli, Jacke. «Ich habe seit zwei Wochen nicht geduscht», sagt sie und fragt kichernd: «Riechst du mich vielleicht?» Ich rieche sie nicht. Ich rieche nur verbrannten Plastik. Noch im Zelt teilen wir uns einen Apfel, den Imat mit einem Dosendeckel schneidet und frühstücken getrocknete Beeren.
Das Anstehen für das Frühstück dauert zwischen eineinhalb und drei Stunden. Suher will nicht anstehen, sie fürchtet sich vor Läusen. Deshalb stellt sich Imat in die Schlange. Doch heute mag er auch nicht so recht aufstehen. Er legt seinen Arm um seine Frau. Suher hat sieben Kilo abgenommen. Imats Hosen flattern lose um seine Beine. «Manchmal wünschte ich, ich wäre ein Vogel», sagt Suher. «Ich würde einfach über die Grenzen hinwegfliegen.»
Imat und Suhers Söhne sind in Europa. Drei in einem Dorf in Deutschland, einer in Österreich. Der Jüngste ist erst 17. Sie wollen zu ihnen nach «Germany», wie die meisten hier. «Kannst du uns nicht im Gepäck mitnehmen?», fragen sie lachend. Mir fehlen die Worte.
Wir stehen auf. Im Camp hat sich herumgesprochen, dass ich hier geschlafen habe. Ein Nachbar kommt herüber und bittet mich um Hilfe. Seine Frau blutet aus dem Anus, seit Tagen. Er will sie ins Spital bringen lassen. Ich soll übersetzen. Imat begleitet mich und die zwei in das Zelt von Ärzte ohne Grenzen.
Das Zelt platzt aus allen Nähten. Ein Helfer bewacht die Türe, damit das Zelt nicht gestürmt wird. Die Wartebänke sind voll besetzt. Eine Frau kann kaum ihren Kopf in der Höhe halten. Die Kinder weinen. Meine Nachbarin setzt sich verkrampft und mit steifem Rücken auf den vorderen Rand der Bank.
«Sie hat Hämorrhoiden», erklärt mir der Arzt von Ärzte ohne Grenzen und gibt der Patientin eine Packung Schmerzmittel. «Man müsste operieren. Das kann ich aber hier nicht tun», sagt er und zuckt mit den Schultern. «Man muss das später operieren, wenn die Frau irgendwo eine angemeldete Bürgerin ist.»
Dann lacht er hilflos.