Ein Brotaufstrich ist zum Symbol für die Entfremdung zwischen West- und Osteuropa geworden. Am EU-Gipfel im März warfen mehrere Länder aus dem Osten westlichen Lebensmittelherstellern vor, ihnen qualitativ minderwertige Ware zu liefern. Es sei «erniedrigend», wie sein Land behandelt werde, klagte der slowakische Ministerpräsident Robert Fico. Das polnische Wirtschaftsblatt «Gazeta Prawna» sprach gar von «Lebensmittelrassismus».
Die Kontroverse erhielt die Bezeichnung «Nutella-Krise» oder «Nutella-Gate». Einwohner der Slowakei hatten beim Einkaufen im benachbarten Österreich festgestellt, dass die von kleinen und grossen Kindern heiss geliebte Nuss-Nougat-Creme anders schmeckt. Das in heimischen Supermärkten erhältliche Nutella sei von schlechterer Qualität.
Der italienische Hersteller Ferrero wies die Vorwürfe zurück und erklärte, man passe die Produkte dem Geschmack des jeweiligen Landes an. Tatsächlich ist Nutella in Südeuropa süsser und cremiger als im Norden. Die Gemüter im Osten beruhigte dies nicht, denn auch andere Produkte wurden als «minderwertig» identifiziert. In Fischstäbchen hat es weniger Fisch als im Westen, in Würsten weniger Fleisch, Softdrinks werden mit Glukosesirup statt «echtem» Zucker gesüsst.
Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban sprach am EU-Gipfel von Doppelmoral und meinte, es müsse verhindert werden, dass Europa «unsere Länder und Märkte als Mülleimer nutzt». Klagen über die angeblich schlechtere Qualität von Markenartikeln in Osteuropa sind nicht neu. Es ist dennoch kein Zufall, dass die Kontroverse gerade in den letzten Monaten eskaliert ist.
13 Jahre nach der EU-Osterweiterung scheinen sich West- und Osteuropa immer stärker auseinanderzuleben. Besonders deutlich zeigt sich dies in der Migrationspolitik: Die vier Staaten der Visegrad-Gruppe – Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei – wehren sich vehement gegen die Aufnahme von Flüchtlingen und den von Angela Merkel propagierten Verteilschlüssel.
In den vier Ländern haben nationalistische und populistische Strömungen starken Zulauf. In Polen und Ungarn regieren nationalkonservative, EU-kritische Parteien mit absoluter Mehrheit. Der slowakische Premier Robert Fico ist eher linksgerichtet und europafreundlich (sein Land hat den Euro eingeführt). Er «kompensiert» dies mit Härte gegenüber Flüchtlingen.
Als letztes Land hat es am Wochenende die tschechische Republik «erwischt». Die traditionellen Parteien verbuchten teils massive Verluste. Grosse Siegerin ist die Protestbewegung ANO des schillernden Milliardärs Andrej Babis. Politisch ist der Populist schwer fassbar. Nachdem er früher für die Einführung des Euro plädiert hatte, profilierte er sich im Wahlkampf als EU-Kritiker.
Im Westen reibt man sich die Augen, denn wirtschaftlich haben die mittelosteuropäischen Länder vieles richtig gemacht. Polen rühmt sich, die Finanzkrise als einziges EU-Land ohne Rezession überstanden zu haben. Tschechien erfreut sich eines flotten Wachstums und einer niedrigen Arbeitslosigkeit. Die Slowakei hat mit der Einführung der Flat Tax viele Investoren angezogen.
Die Erfolgsgeschichte hat jedoch eine Kehrseite. Das Wohlstandsniveau ist nach wie vor deutlich niedriger als im Westen, einige Boomregionen ausgenommen. Das ärgert junge Menschen, für die der Kommunismus und die damit verbundenen Entbehrungen ferne Vergangenheit sind. Sie orientieren sich am Lebensstandard in Berlin, Paris oder Zürich.
Wer kann, haut deshalb ab in den Westen. Der Braindrain bei den Fachkräften verschärft das Problem. Ökonomen sprechen von der Middle Income Trap. Sie besagt, dass wirtschaftlich aufstrebende Staaten auf einem mittleren Einkommensniveau stehen bleiben und den Anschluss an die reichen Länder nicht schaffen können. Sie sitzen buchstäblich in der Falle.
Das Konzept ist umstritten. Tatsache aber ist, dass in den letzten zehn Jahren rund zweieinhalb Millionen Menschen das eigentlich boomende Polen verlassen haben. Mateusz Morawiecki, der Finanz- und Wirtschaftsminister der nationalkonservativen Regierung, will diesen Trend stoppen und sein Land aus der besagten Falle herausholen, wie er im Interview mit der NZZ erklärte.
Einfach ist dies nicht. Das Gefühl, wirtschaftlich hinterherzuhinken, verstärkt bei vielen Osteuropäern den Eindruck, sie seien «Bürger zweiter Klasse», wie ein slowakischer Diplomat erklärte. Berücksichtigt man die relativ schwach entwickelte Zivilgesellschaft, hat man den perfekten Nährboden für Nationalisten und Populisten aller Couleur.
Die EU darf dabei als Sündenbock herhalten, nicht nur beim angeblich zweitklassigen Nutella. An einen Austritt aber denkt nicht einmal der ungarische Regierungschef Orban, der gerne gegen den Westen vom Leder zieht. Zu gross sind die Vorteile der Mitgliedschaft. Auf das Manna aus Brüssel will man nicht verzichten. Auch von der Schweiz wird ein neuer Kohäsionsbeitrag erwartet.
Der Binnenmarkt und die Personenfreizügigkeit bleiben für die wirtschaftliche Entwicklung ebenfalls unerlässlich, denn die Migranten überweisen viel Geld in ihre Herkunftsländer. Deswegen gehört Polen in den Brexit-Verhandlungen zu den Verfechtern einer harten Linie. Man sorgt sich in Warschau um seine Staatsbürger (je nach Quelle bis zu einer Million) in Grossbritannien.
Deswegen reagiert man in der EU auch gelassen auf die Klagen über die Qualität der Nahrungsmittel. Forderungen nach einheitlichen Vorschriften erteilt man eine Absage. Das Letzte, was Europa brauche, sei «eine Nutella-Prüfagentur», sagte der deutsche Agrarminister Christian Schmidt. Und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker fragte die Mitgliedsländer, ob sie wirklich einen europäischen Einheitsgeschmack anstrebten.
Beruhigen lassen sich die Osteuropäer damit kaum. Mitte Oktober trafen sich die Regierungschefs der vier Visegrad-Staaten zu einem Sondergipfel «für gleichwertige Produktequalität» in der slowakischen Hauptstadt Bratislava. «Was gleich verpackt ist, muss auch gleich schmecken und die gleiche Qualität enthalten», betonten sie in der Medienkonferenz zum Abschluss.