Sein Name ist Programm genug, da reichen als Ergänzung austauschbare Floskeln: «Kurz 2017. Es ist Zeit. Der neue Weg. Für Österreich!» Diese Parolen stehen auf Kartonschildern, welche die begeisterten Anhänger des bisherigen Aussenministers in die Höhe halten. Und sie leuchten von den riesigen Bildschirmen hinter dem Rednerpult in der Wiener Stadthalle. 10’000 Menschen haben sich am 23. September hier versammelt, um Sebastian Kurz beim offiziellen Auftakt seiner Wahlkampagne zu sehen.
Auffällig abwesend in der Halle: das Parteikürzel ÖVP. Es geht hier um Kurz – und nur um ihn, soll damit signalisiert werden. Der Ballast seiner verknöcherten Partei, der konservativen Österreichischen Volkspartei, soll im Wahlkampf nicht auf Kurz lasten. Seit dem Januar 1987, weniger als ein Jahr nach Kurz’ Geburt, ist die ÖVP ununterbrochen an der Regierung beteiligt.
Den Vorsitz der Partei hatte Kurz erst zwei Monate zuvor übernommen – zu Bedingungen, die er selber diktierte: Keine Einmischung durch die zuvor mächtigen Landesverbände bei der Zusammenstellung der Wahllisten, «Durchgriffsrecht» bei Sach- und Personalfragen, freie Hand in Koalitionsgesprächen. Damit ist Kurz der mächtigste Parteiobmann in der Geschichte der ÖVP. Und auch den Namen diktierte der Spitzenkandidat: Angetreten wird unter der Bezeichnung «Liste Sebastian Kurz – die neue Volkspartei».
Das Wahlergebnis vom Sonntag gibt Kurz’ Strategie der Fokussierung auf die eigene Person recht: Er machte die ÖVP mit einem Stimmenzuwachs von 7,6 Prozentpunkten zur stärksten Kraft, obwohl sie in Umfragen noch im Frühsommer auf Platz 3 lag. Kurz ist damit in der Pole Position für das Amt des Bundeskanzlers.
Wen einem alles zu gelingen scheint, so nennen ihn die Österreicher einen «Wunderwuzzi». Als ein solcher war Sebastian Kurz schon länger bekannt. Im Alter von bloss 24 Jahren holte ihn der damalige ÖVP-Boss Michael Spindelegger 2011 als «Integrationsstaatssekretär» in die Regierung. Die Presse witterte einen «PR-Gag», von «Verarschung» war gar die Rede. Kurz war damals noch als Student an der Universität Wien eingeschrieben – sein Jus-Studium beendete er nie.
Schon damals galt Kurz als grösstes politisches Talent Österreichs. Als Vorsitzender der Jung-ÖVP hatte er 2010 im Wiener Kommunalwahlkampf auf sich aufmerksam gemacht, indem er Wahlkampfautos – genannt «Geilomobile» – in Ausgehvierteln auffahren liess, um junge Wähler anzusprechen. Hübsche junge Frauen in knapper Bekleidung illustrierten das Wahlmotto, eine Anspielung auf die Parteifarbe der ÖVP: «Schwarz macht geil!»
Dass er auch die ernsthafteren Töne auf der Klaviatur trifft, bewies er als Regierungsmitglied. Zunächst schaffte er es als Staatssekretär für Integration, die hitzige Debatte zu versachlichen, heisst es in einem Porträt des Tages-Anzeigers. Er betonte die Chancen, welche sich durch die Einwanderung für Österreich bieten, und unterstrich die Leistungen von Migranten.
Nach den letzten Wahlen 2013 kam es zu einer Neuauflage der ungeliebten «Grossen Koalition» aus den Sozialdemokraten (SPÖ) und der ÖVP. Kurz stieg zum Aussenminister auf und nutzte auch diese Rolle, um sein eigenes Renommee zu vergrössern. Geschickt bewegte er sich auf dem Parkett der internationalen Diplomatie.
Einen «jungen Herrn Metternich» nannte ihn die «Frankfurter Allgemeine» in Anspielung auf den österreichischen Reichskanzler und Neuordner Europas auf dem Wiener Kongress nach den napoleonischen Kriegen im Jahr 1815. Kurz sei «höchst eloquent und prägnant».
Er gewann den Respekt der Beamtenschaft und Diplomaten seines Ministeriums, kümmerte sich intensiv um gute Kontakte auf dem benachbarten Balkan und holte diplomatische Grossereignisse wie die Verhandlungen über ein Atom-Abkommen zwischen den westlichen Mächten und Iran nach Wien. Kurz demonstrierte: «Kanzler, das kann ich.»
Gleichzeitig hielt er geschickt Distanz zur Innenpolitik mit ihren Fallstricken und beobachtete von seinem Amtssitz im «Palais Niederösterreich» aus, wie zwei weitere ÖVP-Chefs in den Mühlen der «Grossen Koalition» zermürbt und von der eigenen Partei abgesägt wurden – zwischen 2007 und 2017 verbrauchte die ÖVP fünf «Obmänner».
Für Polit-Fuchs Kurz war klar: Als Gesicht der «Grossen Koalition» gewinnt man keinen Blumentopf. Und die ÖVP als Juniorpartner in einer Regierung anzuführen, kam nicht in Frage. Er würde den Parteivorsitz erst beanspruchen, wenn der Zeitpunkt für Neuwahlen gekommen ist.
Obwohl die ÖVP in Umfragen weit abgeschlagen hinter den Rechtspopulisten von der FPÖ und dem Koalitionspartner SPÖ vor sich hin dümpelte, war Kurz davon überzeugt: Mit ihm an der Spitze ist der Sieg möglich.
Seine Strategie: Einerseits den Koalitionspartner SPÖ als Verkörperung des Stillstands darzustellen und die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der bisherigen Politik auf die Sozialdemokraten zu lenken. Andererseits der FPÖ mit einem pointiert restriktiven Kurs in der Flüchtlingspolitik und Polemiken gegen den Islam die Wutbürger abspenstig zu machen.
Kurz begann seine Rolle als Aussenminister zunehmend stärker dafür zu nutzen, Duftmarken in der Innenpolitik zu setzen. Er verbot dem türkischen Präsidenten Erdogan Wahlkampfauftritte auf österreichischem Boden, verurteilte die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel und lobte die harte Hand von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán.
Nicht immer ging Kurz sauber vor: Im Januar 2016 veröffentlicht sein Ministerium Auszüge aus einer 36’000 Euro teuren Studie, welche die angebliche Indoktrinierung in islamischen Kindergärten in der SPÖ-Hochburg Wien dokumentierte. Mit der Kombination der emotionalen «Trigger-Themen» Islam und Kinder wollte sich Kurz als Vorkämpfer gegen Parallelgesellschaften profilieren.
Das Wochenmagazin Falter berichtete im Sommer 2016, dass Beamte von Kurz die Studie umgeschrieben hatten, um deren Befunde dramatischer darzustellen, als sie waren. Doch die Enthüllung konnte Kurz nichts mehr anhaben: Die einflussreichen österreichischen Boulevardzeitungen waren auf das Thema bereits angesprungen und das Land hatte wochenlang über die islamistische Bedrohung diskutiert.
Und so manövrierte sich Kurz in die Ausgangslage, auf die er schon lange hingearbeitet hatte: Die SPÖ geschwächt, die eigene Glaubwürdigkeit in den FPÖ-Kernthemen Islam und Ausländer auf einem Rekordhoch und die ÖVP unter Zugzwang, sich dem alternativlosen Parteichef in spe zu dessen Bedingungen an die Brust zu werfen.
Der «neue Metternich» musste nur noch den richtigen Moment abwarten. Das kurzzeitige Umfrage-Hoch der SPÖ, welches auf den Wechsel im Kanzleramt von Werner Faymann zu Christian Kern im Frühjahr 2016 folgte, liess Kurz vorüberziehen. Er nutzte die Bühne, welche ihm der OSZE-Vorsitz Österreichs 2017 bot, um das Land an die Vorstellung eines 31-jährigen Kanzlers inmitten von älteren Staatsoberhäuptern zu gewöhnen.
Kurz schaute der zunehmenden Verschlechterung der Beziehungen zwischen den Regierungspartnern SPÖ und ÖVP tatenlos zu. Im Frühjahr dieses Jahres sah er die Voraussetzungen erfüllt, um seinen lange gehegten Traum vom Einzug ins Bundeskanzleramt am Ballhausplatz in Wien wahrzumachen. Laut NZZ gab er seinen Verbündeten das Signal, den bisherigen ÖVP-Chef und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner durch ständige Kritik zu frustrieren und aus dem Amt zu drängen. Im Mai warf Mitterlehner den Bettel hin.
Und so kam es, dass sich am 23. September 2017 – sieben Jahre nach der Erfindung des «Geilomobils» – zehntausende Fans in der Wiener Stadthalle einfanden. Sie trugen türkisgrüne T-Shirts – die Farbe hatte Kurz für seinen Wahlkampf ausgesucht, sie löste das traditionelle Schwarz der katholisch geprägten ÖVP ab.
Von der Bühne winkte ihnen Kurz zu, ein 31-Jähriger mit abgebrochenem Jus-Studium. Knapp drei Wochen später ist klar, dass er ins Kanzleramt einziehen wird. Aus der behäbigen, konservativen, bäuerlich geprägten ÖVP war eine «Bewegung» geworden, nach dem Vorbild von «En Marche» des französischen Präsidenten Emmanuel Macron.
Was aus der ÖVP, was aus Österreich wird, wenn Kurz wieder weg ist, ist schwierig vorauszusehen. Mit einem 31-jährigen politischen Ausnahmetalent an der Spitze kann es lange dauern, bis sich diese Frage wieder stellt.
* In einer früheren Version dieses Artikel hiess es fälschlicherweise, Sebastian Kurz sei vom damaligen ÖVP-Boss Josef Pröll als Staatssekretär für Integration in die Regierung geholt. Richtig ist, dass ihn Michael Spindelegger, der Nachfolger Prölls als ÖVP-Vorsitzender in die Regierung berief. Wir bitten um Entschuldigung für diesen Fehler.