Es muss schon etwas Besonderes passieren in der Europäischen Union, wenn hochrangige EU-Vertreter nicht nur aus Frankreich zur Wahl eines politischen Gegners aufrufen.
Aber nach dem ersten Urnengang zählt in Brüssel nur, dass neben der Rechtspopulistin Marine Le Pen nicht noch der ebenso strikte EU-Gegner und Linksradikale Jean-Luc Mélenchon in die Stichwahl um das Präsidentenamt zieht.
Deshalb versprachen sowohl der französische Sozialist und EU-Wirtschaftskommissar Pierre Moscovici als auch der EU-Chefunterhändler für den Brexit, der Konservative Michel Barnier, Emmanuel Macron ihre Unterstützung.
Ihnen schlossen sich der EVP-Fraktionschef im EU-Parlament, Manfred Weber, und der Europa-Grünen-Chef Reinhard Bütikofer mit dem Appell an, den Parteilosen Macron zu wählen. Aus ihnen sprechen Pragmatismus und Furcht, denn es geht um nicht weniger als den Fortbestand der EU.
Dass rund 45 Prozent der Franzosen für Le Pen oder Mélenchon und damit quasi gegen die EU stimmten, dürfte den Verantwortlichen in Brüssel, Berlin und anderswo Warnung genug sein, nicht das Ende aller EU-Skepsis auszurufen.
Einen Brexit kann die Staatengemeinschaft verschmerzen, sie hätte wohl auch einen Euro-Austritt Griechenlands weggesteckt. Aber eine EU ohne den Gründerstaat Frankreich und stattdessen mit einem wirtschaftlich wie politisch übermächtigen Deutschland kann und will sich in Brüssel kaum jemand vorstellen.
Es könnte aber ein kurzes Frühlingserwachen für die EU-Vertreter werden, sollte Macron in zwei Wochen zum Präsidenten gewählt werden. Viele seiner Ziele sind noch vage, zumal er eine Konsultationsphase von sechs bis zehn Monaten in allen EU-Staaten vorschlägt. Sie soll eine Roadmap hervorbringen, die in eine Art Fünf-Jahres-Plan für Europa münden würde.
Bei etlichen Vorhaben muss Macron klären, inwieweit er der EU-Linie folgen will. Oder er muss Kompromisse eingehen, weil er sonst im Parlament scheitern würde, bei dessen Wahl im Juni seine junge Bewegung «En Marche» kaum eine Mehrheit erringen dürfte.
Das Centrum für Europäische Politik (Cep) weist darauf hin, dass Macron die Euro-Zone stärken will, was bei EU-Institutionen und der deutschen Regierung auf Zustimmung stossen dürfte: «Allerdings könnte es unter Macron Impulse hin zu einer tieferen Integration der Euro-Zone geben, die nicht alle einhellig begrüssen».
Die Cep-Experten verweisen auf den Vorschlag Macrons, für den Währungsraum einen eigenen Etat und ein Parlament zu schaffen. Letzteres hatte auch der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble angeregt. Allerdings will Macron die Verteilung der Mittel nicht primär an die Einhaltung von Fiskalregeln, sondern an Besteuerung und Sozialpolitik knüpfen.
Wie das funktionieren soll, lässt sich aus seinem Wahlprogramm nicht ablesen, die Massnahme dürfte aber nach Meinung der Cep-Experten auf Skepsis in Berlin stossen. Zudem wären für solch weitreichende Reformen wohl EU-Vertragsänderungen nötig, was auch in Frankreich ein Referendum mit all seinen Unwägbarkeiten nach sich zöge.
Auch sein Vorschlag, einen Finanzminister für die Euro-Zone zu schaffen, gibt zwar eine Position der Präsidenten der EU-Institutionen wieder, hat bei der deutschen Regierung aber wenig Anklang gefunden. Und wie hält es Macron tatsächlich mit den Handelsüberschüssen Deutschlands, die er kritisiert hat?
Wird er sich mit der EU-Kommission verbünden, die den deutschen Überschuss seit Jahren beklagt, dabei aber nichts erreicht hat, weil ihr mächtige Verbündete in den Mitgliedsländern fehlen? Oder wird sich der ehemalige Wirtschaftsminister, weil er daheim womöglich ein Parlament gegen sich hat, Schäuble anschliessen, der eine stärkere zwischenstaatliche Kooperation postuliert und die Macht von EU-Kommission und EU-Parlament beschneiden will?
Mit seiner Forderung, die EU müsse sich besser gegen unlautere Handelspraktiken aus Ländern wie China schützen, ist Macron auf einer Linie mit Brüssel und Berlin. Spannend ist sein Vorschlag eines «Buy-European-Act», mit dem er sich gegen das «Buy American» von US-Präsident Donald Trump positioniert. So sollen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge europäische Firmen bevorzugt werden.
Macron will zudem Teile des mühsam mit den USA ausgehandelten Datenschutzabkommens «Privacy Shield» aufschnüren und eine EU-Digitalagentur schaffen, die Online-Plattformen wie Facebook kontrollieren soll.
In anderen Bereichen dürfte getestet werden, ob Macron fähig ist zu EU-Kompromissen, in denen politische Gegner daheim gern einen Verrat nationaler Interessen erkennen. Wie wird er sich in den Brexit-Verhandlungen positionieren, in denen es um die wirtschaftlichen Beziehungen Frankreichs zum wichtigen Handelspartner jenseits des Ärmelkanals geht?
Bisher gilt der 39-Jährige als Verfechter der Position Deutschlands und vieler anderer Länder, dass der Weg zum Erfolg eine geschlossene Haltung gegenüber der Regierung in London ist.
Wie Berlin und Brüssel will Macron die EU-Aussengrenzen stärker schützen und die Grenzschutzagentur Frontex ausbauen. Auch seine Forderung nach einem EU-Verteidigungsfonds und einem Planungszentrum für militärische Einsätze sind nicht neu, sondern bereits eingeleitete EU-Massnahmen.
Aber wird sein Wunsch nach einer stärkeren Zusammenarbeit der Geheimdienste mehr Informationsaustausch umfassen, als den Sicherheitsbehörden in anderen EU-Staaten lieb ist? Und wird er auf eine engere Kooperation des Militärs pochen, um gegen die IS-Miliz in Syrien vorzugehen – was die EU bisher der Anti-IS-Koalition überlässt?
All das wird Macron klären müssen. Womöglich wird in Brüssel die Erleichterung schnell in Ärger umschlagen. Allerdings dürfte in der EU dann weiter die Erkenntnis vorherrschen, dass es besser ist, einen schwierigen Partner zu haben als gar keinen. (sda/reu)