Ein spezieller Gast war am Montag zum Nachtessen in Brüssel eingeladen. Erstmals seit dem Austritt aus der Europäischen Union vor fünf Jahren nahm mit Sir Keir Starmer ein britischer Premierminister an einem Gipfeltreffen der 27 Staats- und Regierungschefs teil. Für den proeuropäischen «Guardian» war es nicht weniger als ein «grosser Moment».
Der Labour-Regierungschef bemühte sich, den Ball flachzuhalten. Beim Treffen gehe es um eine engere Zusammenarbeit bei Sicherheit und Verteidigung. Angesichts der russischen Bedrohung wolle man «eine ehrgeizige Sicherheitspartnerschaft zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU zur Unterstützung der NATO aufbauen», sagte Starmer.
Manche auf der Insel hoffen, dass noch mehr dabei herausschaut, bis hin zu einer Rückkehr in die EU. Der am 31. Januar 2020 vollzogene Brexit, dreieinhalb Jahre nach einer Volksabstimmung, die tiefe Gräben aufgerissen hatte, war aus ihrer Sicht ein Reinfall. «Die grosse Befreiung hat Grossbritannien wenig gebracht», kommentierte die NZZ.
Die Bilanz ist in der Tat ernüchternd. Zwar konnte der konservative Regierungschef und Brexit-Vorkämpfer Boris Johnson innerhalb einer Übergangsfrist von elf Monaten ein Handelsabkommen mit der EU aushandeln. Später folgte mit dem Windsor-Abkommen ein separater Deal für Nordirland. Der erhoffte Wirtschaftsboom aber ist ausgeblieben.
Die neuen Freihandelsverträge etwa mit Australien haben wenig bewirkt. So dürfte der Beitritt zum Transpazifik-Abkommen CPTPP das britische Bruttoinlandsprodukt um gerade mal 0,08 Prozent ansteigen lassen. Die Inflation erreichte höhere Werte als in der Eurozone, und die Wirtschaft kommt nicht auf Touren, zum Leidwesen der neuen Labour-Regierung.
Der Austritt aus dem gemeinsamen Markt spielt dabei eine wichtige Rolle. Die EU ist gemäss einer Studie der britischen Handelskammer nach wie vor der mit Abstand wichtigste Handelspartner des Königreichs. Gleichzeitig ist der Warenexport in die EU gemäss Angaben von Ökonomen um bis zu 30 Prozent tiefer, als er ohne Brexit sein könnte.
Besonders kleine und mittlere Unternehmen leiden unter der Bürokratie, die mit dem Austritt aus Binnenmarkt und Zollunion entstanden ist. Andrew Bailey, der Gouverneur der Bank of England, erklärte im letzten Herbst, dass der Brexit schwer auf der britischen Wirtschaft laste. Er rief die Regierung auf, die Brücken zur EU wieder aufzubauen.
Die proeuropäischen Liberaldemokraten fordern zumindest eine Rückkehr in die Zollunion. Einzelne Regierungsvertreter schliessen sich an, etwa Aussenminister David Lammy. Doch Keir Starmer zögert. Der 62-jährige Regierungschef fürchtet heftigen Widerstand, vor allem von der rechtspopulistischen Partei Reform UK und ihrem Chef Nigel Farage.
Der Brexit-Hardliner hatte letztes Jahr einen Sitz im Unterhaus erobert. In den neusten Umfragen liegt seine Partei vor Labour und den konservativen Tories, die unter der neuen Chefin Kemi Badenoch Mühe bekunden, wieder Tritt zu fassen. Farage hält den Brexit ebenfalls für gescheitert, weil die Einwanderung nicht ab-, sondern zugenommen hat.
Die starke Zuwanderung aus der EU war der Hauptgrund für das knappe Ja im Juni 2016. Sie ist seit dem Brexit regelrecht kollabiert und befindet sich im negativen Bereich. Dafür ist die Migration von ausserhalb Europas explodiert, wegen der Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt (etwa im Gesundheitswesen) und der Anwerbung ausländischer Studierender.
Der Brexit-Slogan «Take Back Control» wirkt wie ein schlechter Scherz. Laut einer Umfrage des Instituts YouGov denken nur wenige Briten, der Brexit sei «für irgendetwas gut». 55 Prozent möchten demnach zurück in die EU, und nur 11 Prozent finden, der Brexit habe mehr Vor- als Nachteile. Doch selbst Austrittsbefürworter hätten Mühe, sie zu benennen.
Es wäre eine Steilvorlage für Keir Starmer, der 2016 ein überzeugter «Remainer» war. Am Montag jedoch erteilte er einem Wiedereintritt in die EU eine klare Absage: «Das wird nicht passieren.» Er glaube aber, «dass wir in den Bereichen Handel und Sicherheit eine bessere, engere Beziehung haben können». Was das bedeutet, konnte oder wollte er nicht ausführen.
Selbst bei einer erleichterten Mobilität für junge Menschen steht die Regierung auf der Bremse, aus Angst vor einer Zunahme der Migrationszahlen. Hinzu kommt der von US-Präsident Donald Trump angedrohte Handelskrieg. Starmer sagte in Brüssel, er wolle sich nicht zwischen der EU und den USA entscheiden müssen: «Beide sind wichtig für uns.»
Sein Lavieren stösst zunehmend auf Kritik. Der «Spiegel» bezeichnete Keir Starmer als «Brexit-Angsthasen» und meinte, auf Dauer werde er nicht bloss erklären können, was er auf keinen Fall tun wolle: «Als Premier muss er eine positive Vision entwerfen, auch in Bezug auf die komplizierte Beziehung zur EU. Sonst wird er kaum gegen Farage bestehen.»
Vorerst aber werden weitere Hürden errichtet. Die EU will dieses Jahr das elektronische Genehmigungssystem ETIAS für die visafreie Einreise einführen. Davon betroffen ist auch Grossbritannien. Die Briten sind schon weiter: Ab 2. April brauchen auch Schweizer eine Electronic Travel Authorisation (ETA) für die Reise ins Königreich, zum Preis von zehn Pfund.