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5 Jahre nach dem Brexit: Starmer tastet sich an die EU heran

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Keir Starmer am EU-Gipfel in Brüssel zwischen dem polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk und EU-Ratspräsident Antonio Costa (r.).Bild: keystone

5 Jahre nach dem Brexit: Das britische EU-Comeback

Fünf Jahre nach dem EU-Austritt herrscht in Grossbritannien Ernüchterung. Premierminister Keir Starmer will bessere Beziehungen mit Europa, doch eine klare Linie ist nicht erkennbar.
04.02.2025, 17:56
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Ein spezieller Gast war am Montag zum Nachtessen in Brüssel eingeladen. Erstmals seit dem Austritt aus der Europäischen Union vor fünf Jahren nahm mit Sir Keir Starmer ein britischer Premierminister an einem Gipfeltreffen der 27 Staats- und Regierungschefs teil. Für den proeuropäischen «Guardian» war es nicht weniger als ein «grosser Moment».

Der Labour-Regierungschef bemühte sich, den Ball flachzuhalten. Beim Treffen gehe es um eine engere Zusammenarbeit bei Sicherheit und Verteidigung. Angesichts der russischen Bedrohung wolle man «eine ehrgeizige Sicherheitspartnerschaft zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU zur Unterstützung der NATO aufbauen», sagte Starmer.

England feiert den Brexit

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Manche auf der Insel hoffen, dass noch mehr dabei herausschaut, bis hin zu einer Rückkehr in die EU. Der am 31. Januar 2020 vollzogene Brexit, dreieinhalb Jahre nach einer Volksabstimmung, die tiefe Gräben aufgerissen hatte, war aus ihrer Sicht ein Reinfall. «Die grosse Befreiung hat Grossbritannien wenig gebracht», kommentierte die NZZ.

Wirtschaftsboom ist ausgeblieben

Die Bilanz ist in der Tat ernüchternd. Zwar konnte der konservative Regierungschef und Brexit-Vorkämpfer Boris Johnson innerhalb einer Übergangsfrist von elf Monaten ein Handelsabkommen mit der EU aushandeln. Später folgte mit dem Windsor-Abkommen ein separater Deal für Nordirland. Der erhoffte Wirtschaftsboom aber ist ausgeblieben.

Die neuen Freihandelsverträge etwa mit Australien haben wenig bewirkt. So dürfte der Beitritt zum Transpazifik-Abkommen CPTPP das britische Bruttoinlandsprodukt um gerade mal 0,08 Prozent ansteigen lassen. Die Inflation erreichte höhere Werte als in der Eurozone, und die Wirtschaft kommt nicht auf Touren, zum Leidwesen der neuen Labour-Regierung.

Belastung für britische KMU

Der Austritt aus dem gemeinsamen Markt spielt dabei eine wichtige Rolle. Die EU ist gemäss einer Studie der britischen Handelskammer nach wie vor der mit Abstand wichtigste Handelspartner des Königreichs. Gleichzeitig ist der Warenexport in die EU gemäss Angaben von Ökonomen um bis zu 30 Prozent tiefer, als er ohne Brexit sein könnte.

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Ein deutscher Lastwagen nach der Ankunft in Dover: Der Brexit hat den Handel erschwert.Bild: keystone

Besonders kleine und mittlere Unternehmen leiden unter der Bürokratie, die mit dem Austritt aus Binnenmarkt und Zollunion entstanden ist. Andrew Bailey, der Gouverneur der Bank of England, erklärte im letzten Herbst, dass der Brexit schwer auf der britischen Wirtschaft laste. Er rief die Regierung auf, die Brücken zur EU wieder aufzubauen.

Farage im Aufwind

Die proeuropäischen Liberaldemokraten fordern zumindest eine Rückkehr in die Zollunion. Einzelne Regierungsvertreter schliessen sich an, etwa Aussenminister David Lammy. Doch Keir Starmer zögert. Der 62-jährige Regierungschef fürchtet heftigen Widerstand, vor allem von der rechtspopulistischen Partei Reform UK und ihrem Chef Nigel Farage.

Der Brexit-Hardliner hatte letztes Jahr einen Sitz im Unterhaus erobert. In den neusten Umfragen liegt seine Partei vor Labour und den konservativen Tories, die unter der neuen Chefin Kemi Badenoch Mühe bekunden, wieder Tritt zu fassen. Farage hält den Brexit ebenfalls für gescheitert, weil die Einwanderung nicht ab-, sondern zugenommen hat.

Migration explodiert

Die starke Zuwanderung aus der EU war der Hauptgrund für das knappe Ja im Juni 2016. Sie ist seit dem Brexit regelrecht kollabiert und befindet sich im negativen Bereich. Dafür ist die Migration von ausserhalb Europas explodiert, wegen der Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt (etwa im Gesundheitswesen) und der Anwerbung ausländischer Studierender.

Zuwanderung Grossbritannien
grafik: bbc

Der Brexit-Slogan «Take Back Control» wirkt wie ein schlechter Scherz. Laut einer Umfrage des Instituts YouGov denken nur wenige Briten, der Brexit sei «für irgendetwas gut». 55 Prozent möchten demnach zurück in die EU, und nur 11 Prozent finden, der Brexit habe mehr Vor- als Nachteile. Doch selbst Austrittsbefürworter hätten Mühe, sie zu benennen.

Absage an EU-Rückkehr

Es wäre eine Steilvorlage für Keir Starmer, der 2016 ein überzeugter «Remainer» war. Am Montag jedoch erteilte er einem Wiedereintritt in die EU eine klare Absage: «Das wird nicht passieren.» Er glaube aber, «dass wir in den Bereichen Handel und Sicherheit eine bessere, engere Beziehung haben können». Was das bedeutet, konnte oder wollte er nicht ausführen.

Selbst bei einer erleichterten Mobilität für junge Menschen steht die Regierung auf der Bremse, aus Angst vor einer Zunahme der Migrationszahlen. Hinzu kommt der von US-Präsident Donald Trump angedrohte Handelskrieg. Starmer sagte in Brüssel, er wolle sich nicht zwischen der EU und den USA entscheiden müssen: «Beide sind wichtig für uns.»

Sein Lavieren stösst zunehmend auf Kritik. Der «Spiegel» bezeichnete Keir Starmer als «Brexit-Angsthasen» und meinte, auf Dauer werde er nicht bloss erklären können, was er auf keinen Fall tun wolle: «Als Premier muss er eine positive Vision entwerfen, auch in Bezug auf die komplizierte Beziehung zur EU. Sonst wird er kaum gegen Farage bestehen.»

Vorerst aber werden weitere Hürden errichtet. Die EU will dieses Jahr das elektronische Genehmigungssystem ETIAS für die visafreie Einreise einführen. Davon betroffen ist auch Grossbritannien. Die Briten sind schon weiter: Ab 2. April brauchen auch Schweizer eine Electronic Travel Authorisation (ETA) für die Reise ins Königreich, zum Preis von zehn Pfund.

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Brexit-Referendum
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Premierminister David Cameron tritt am Vormittag des 24. Juni 2016 vor die Presse und kündigt seinen Rücktritt für den Herbst an. Die Briten haben sich mit 51,9 Prozent der Stimmen für den Austritt aus der Europäischen Union entschieden.
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Das sagen die Briten zum Brexit-Chaos
Video: srf
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103 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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EatTheRich
04.02.2025 18:15registriert Juni 2019
Farages Brexit-Lügen entlarvt: statt „Take Back Control“ wirtschaftlicher Abstieg, mehr Bürokratie, xenophobe Stimmungsmache. Während Populisten Migranten als Sündenböcke präsentieren, bereichern sich Eliten an der Krise. Starmers zaghaftes EU-Lavieren ändert nichts – die Lösung liegt links. Rückkehr in Zollunion? Nur der Anfang! Echte Souveränität entsteht durch soziale Sicherheit, nicht durch Grenzzäune. Der Brexit zeigt: Rechtspopulismus ist Brandbeschleuniger des Neoliberalismus. Zeit, die Debatte zu entgiften – mit klassenkämpferischer Solidarität statt nationalistischer Hetze.
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Yesbutter
04.02.2025 19:33registriert August 2023
Die "Erfolgsgeschichte" Brexit sollte vor Allem bei den Nationalisten und EU- Gegnern als Pflichtlektüre eingeführt werden. Auch Diejenigen, die die EU als Bürokratiemonster bezeichnen sind widerlegt. Einheitliche Normen und Verfahren erleichtern die Zusammenarbeit wesentlich. Mit Blick auf die Herausforderungen, vor denen wir stehen, ist Zusammenarbeit in Europa unerlässlich. Sonst werden wir von Grossmächten zermahlen.
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GoodbyeNau
05.02.2025 01:31registriert November 2024
Ein exzellentes Beispiel was von Rechtspopulismus in der Realität übrig bleibt. Absolut gar nichts. Es gab zwei Versprechen für das Volk: 1. Es gibt mehr Arbeitsplätze für Briten. 2. Die Gehälter für Briten werden steigen. Eingetroffen ist davon überhaupt nichts. Dafür sind alle Nachteile eingetroffen, welche die Gegner des Brexit mit Fakten untermauert den Bürgern dargelegt haben. Rechtspopulismus scheitert jedes Mal an der Realität.
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