Es war einer jener Auftritte, die man als symbolträchtig bezeichnen kann. Als der britische Premierminister Rishi Sunak am Mittwoch vor seinem Amtssitz in London Neuwahlen für den 4. Juli ankündigte, stand er wortwörtlich im Regen. Gleiches lässt sich von seiner Konservativen Partei behaupten. Ihr droht eine krachende Niederlage.
Im Prognosemodell des Magazins «The Economist» wird ein Sieg der oppositionellen Labour-Partei als «extrem wahrscheinlich» eingestuft. Sunaks Tories haben demnach nur eine Erfolgschance von einem Prozent. Alles deutet darauf hin, dass Labour-Chef Keir Starmer am 5. Juli von König Charles den Auftrag zur Regierungsbildung erhalten wird.
Rishi Sunaks Ankündigung soll selbst in den eigenen Reihen viele überrascht haben. Allgemein wurde mit Neuwahlen im Oktober oder November gerechnet. Offenbar hofft der Regierungschef auf eine Art Wunder, dank besseren Wirtschaftszahlen und einer auf etwas über zwei Prozent gesunkenen Inflation. Helfen soll auch das Asylabkommen mit Ruanda.
Kaum jemand im Königreich glaubt jedoch, dass Sunak in den nächsten sechs Wochen der Turnaround gelingen wird. In einem Radiointerview am Donnerstag musste er zugeben, dass bis zu den Wahlen keine Migranten nach Ostafrika abgeschoben werden. Viele Abgeordnete haben die Hoffnung aufgegeben und treten zur Wahl am 4. Juli nicht mehr an.
Der nächste Premierminister dürfte Sir Keir Starmer heissen. Er hat Labour nach dem Chaos unter seinem Linksaussen-Vorgänger Jeremy Corbyn stabilisiert. Letztmals haben die Sozialdemokraten die Tories 1997 mit Tony Blair von der Macht verdrängt. Nun könnte Starmers Sieg noch deutlicher ausfallen, auch dank «Wahlhilfe» von vier anderen Parteien.
Bei der letzten Unterhauswahl im Dezember 2019 hatte Premierminister Boris Johnson den Tories mit dem Slogan «Get Brexit Done» eine satte Mehrheit beschert. Kurz danach begann die Corona-Pandemie, die von Johnson chaotisch gemanagt wurde, samt den berüchtigten Partys an der Downing Street, die den Egomanen und Populisten letztlich das Amt kosteten.
Nachfolgerin Liz Truss hätte in ihrer ultrakurzen Amtszeit fast das britische Pfund ruiniert. Mit Rishi Sunak wurde der Regierungsstil pragmatischer. Doch der erste Hindu-Premierminister und ehemalige Hedgefonds-Manager, der mit der Tochter eines indischen Milliardärs verheiratet ist, schaffte es nie, einen Draht zu den einfachen Leuten zu finden.
Das war fatal, denn ein beträchtlicher Teil der britischen Bevölkerung ist in den letzten Jahren regelrecht verarmt. Fast ein Fünftel kommt nur mit Mühe über die Runden. Knapp drei Millionen Kinder leben in tiefer Armut. Dazu trug auch der Brexit bei. Er verwandelte das Königreich nicht in eine «blühende Landschaft», sondern liess die Preise explodieren.
In Umfragen bezeichnen rund 60 Prozent den 2016 beschlossenen EU-Austritt als Fehler. Mit ihm hat die Einwanderung nicht ab-, sondern zugenommen. Der nationale Gesundheitsdienst (NHS) befindet sich in einem bedenklichen Zustand. Wer nicht König Charles oder Prinzessin Catherine ist, wartet oft monatelang auf einen Arzttermin.
Die Quittung erhielten die Konservativen bereits Anfang Mai. Bei den Kommunalwahlen in England verloren sie etwa die Hälfte ihrer bislang knapp 1000 Sitze in den Gemeinderäten. Sie unterlagen Labour sogar dort, wo die Opposition verwundbar schien, etwa in der Region West Midlands mit der im letzten Herbst bankrottgegangenen Metropole Birmingham.
In Schottland ticken die politischen Uhren anders. Seit 2011 wird der Norden der Insel von der Scottish National Party (SNP) regiert. Ihr Ziel ist die Unabhängigkeit von Grossbritannien. Bei den Wahlen 2019 eroberte sie 48 der 59 schottischen Sitze in Westminster. In letzter Zeit aber befanden sich die Nationalisten in einem Zustand der Selbstzerstörung.
Im Februar 2023 trat Partei- und Regierungschefin Nicola Sturgeon nach neun Amtsjahren überraschend zurück. Kurz darauf wurde ihr Ehemann Peter Murrell beschuldigt, als langjähriger SNP-Geschäftsführer tief in die Parteikasse gelangt zu haben. Kürzlich wurde er offiziell wegen Veruntreuung angeklagt. Sturgeons Nachfolger Humza Yousaf hielt sich nur etwa ein Jahr im Amt.
Er hatte ohne Not die Koalition mit den Grünen aufgekündigt und musste mangels Mehrheit im Regionalparlament abtreten. Nun soll der Parteiveteran John Swinney die SNP «retten». In den Umfragen fiel sie zuletzt erstmals seit der Unabhängigkeitsabstimmung vor zehn Jahren hinter Labour zurück. Das dürfte sich auf die Unterhauswahl auswirken.
Die Mehrheit der Briten mag den Austritt aus der EU bereuen, doch noch immer gibt es viele Hardcore-Brexiteers. An sie wendet sich die Partei Reform UK, die früher United Kingdom Independence Party (UKIP) hiess und zu den Wahlen 2019 unter dem Namen Brexit Party angetreten war. Allerdings liess sie in vielen Wahlkreisen den Tories den Vortritt.
Damit trug sie zu Boris Johnsons Wahlsieg bei, und der lieferte prompt den gewünschten «harten» Brexit. Jetzt aber fühlen sich viele von den Konservativen verraten, vor allem wegen der Zuwanderung. Diese Wählerinnen und Wähler will Reform UK «abholen». Selbst kann die Partei jedoch höchstens eine Handvoll Sitze im Unterhaus gewinnen.
Das liegt am gnadenlosen britischen Mehrheitswahlrecht. Wer in den 650 Wahlkreisen die meisten Stimmen holt, gewinnt, egal ob der Anteil 30 oder 70 Prozent beträgt. Faktisch dürfte Reform UK dadurch Labour zum Sieg verhelfen. Der charismatische «Ehrenpräsident» Nigel Farage zielt offen darauf ab, wie er am Donnerstag auf GB News erklärte.
Die britischen Grünen sorgten zuletzt für Schlagzeilen, weil sie Linksradikalen und Muslimen, die von Keir Starmer aus der Labour-Partei «verdrängt» worden waren, eine neue Heimat boten. Vor allem gegen den unter Jeremy Corbyn teilweise grassierenden Antisemitismus ging der mit einer Jüdin verheiratete Labour-Vorsitzende rigoros vor.
Die Grünen haben diesbezüglich weniger Hemmungen. Bei den Kommunalwahlen in der Stadt Leeds setzte sich in einem Bezirk ein Muslim durch, der seinen Sieg mit «Allahu akbar» feierte und zuvor mit Tiraden gegen Israel aufgefallen war. Er entschuldigte sich später, doch das Image der Grünen als Sammelbecken für Extremisten erhärtete sich.
Labour dürfte am 4. Juli in Wahlkreisen mit einem hohen muslimischen Bevölkerungsanteil Stimmen verlieren. Bei den Kommunalwahlen gab es diesen Trend bereits. Gleichzeitig aber helfen ihr die Grünen dabei, das Corbyn-Stigma loszuwerden und sich der Wählerschaft als moderate linke Partei zu empfehlen. Und damit an Tony Blairs «New Labour» anzuknüpfen.