Vor vier Jahren entführte die islamistische Terrormiliz Boko Haram 276 Mädchen, die sogenannten Chibok-Girls. Die Entführung löste einen internationalen Proteststurm aus. Wie präsentiert sich die Lage heute?
Ein Teil der Mädchen konnte schon ganz zu Beginn, kurz nach der Entführung, fliehen. Etwa die Hälfte der Mädchen und jungen Frauen kam in der Folge in mehreren Wellen frei. Etwa 100 sollen sich noch in der Gewalt der Entführer befinden.
Weiss man, wie diese Befreiungen vor sich gingen?
Meist fanden sie im Rahmen von medienwirksamen Aktionen statt. Es wird spekuliert, dass Geld geflossen sei. Und man vermutet auch, dass die Geiseln mit Boko-Haram-Gefangenen ausgetauscht wurden.
Rund 100 der entführten Chibok-Mädchen befinden sich noch immer in den Händen von Boko Haram. Weiss man, wie es ihnen geht?
Kaum. Über öffentliche Kanäle von Boko Haram hört man ab und an von ihnen, man weiss aber weder, wo sie festgehalten werden, noch, ob alle noch am Leben sind.
Was für öffentliche Kanäle?
Sie werden zum Beispiel in Videos vorgeführt, wo man sie mit Kopftuch und traditioneller Kleidung sieht, und in denen behauptet wird, dass sie zum Islam konvertiert seien. Man kann aber davon ausgehen, dass sie unter Zwang gehandelt haben. Wenn sie nicht konvertieren, droht ihnen ein Leben als Sklavinnen.
Sie waren selber vor kurzem in Yola, im Osten Nigerias, dort, wo sich der Grossteil der befreiten Chibok-Girls befindet. Was war Ihr Eindruck?
Ja, ich war in Yola, hatte aber keinen Zugang zur amerikanischen Universität, wo die Mädchen untergebracht sind. Diese werden gut abgeschottet. Wie ich von Vertrauensleuten gehört habe, werden sie dort aber sehr gut betreut, gerade auch im Bereich der Traumaarbeit. Es soll ihnen dort ermöglicht werden, in einem geschützten Umfeld ihre Ausbildung fortsetzen zu können und irgendwann wieder Fuss zu fassen, gerade auch im persönlichen Bereich.
Die Rückkehr aus einer so langen Gefangenschaft gestaltet sich extrem schwierig. Nicht nur für die Freigekommenen, sondern auch für die Verwandten.
Ja, einige Mädchen haben versucht, in ihre Dörfer zurückzukehren und wurden daraufhin verstossen. Gerade für diejenigen, die mit Kindern zurückkamen, die sie in der Gefangenschaft auf die Welt gebracht haben, sind das enorm belastende Situationen. Diese Kinder sind oftmals auch nicht akzeptiert, tragen das Stigma der Schande. Es gibt allerdings auch ein paar leuchtende Beispiele, bei denen die Eingliederung in die Familie wieder klappte.
Die Entführung der Chibok-Girls ging um die Welt, unzählige Prominente veröffentlichten Solidaritätsbekundungen. Dutzende weitere Fälle fanden aber nie den Weg in die Weltpresse: Unicef veröffentlichte gestern die Zahl von 1000 Kindern, die seit 2013 entführt wurden. Erst im Februar hatten die Terroristen mehr als 100 Kinder in Dapchi im Norden Nigerias verschleppt und nach Verhandlungen mit der Regierung wieder freigelassen.
Ja, neben den Chibok-Girls, die extrem viel Solidarität erfahren haben, gibt es Hunderte weitere Geiseln in den Händen der Boko Haram. Wie viele es tatsächlich sind, ist extrem schwierig zu sagen. Viele Entführungen ereignen sich in Regionen, in denen eine moderne Kommunikationsinfrastruktur äusserst schwach verbreitet ist. Es gibt sicher eine hohe Dunkelziffer.
Die nigerianische Regierung vermeldete Anfang dieses Jahres, dass Boko Haram militärisch geschlagen wurde. Was ist von dieser Meldung zu halten?
Das entspricht ganz offensichtlich nicht der Realität. Zwar wurden schon im Jahr 2015 viele Gebiete zurückerobert. Die Sicherheitslage ist aber gerade im Norden weiterhin sehr schlecht. Angriffe durch Boko Haram sind dort keine Seltenheit, nur kommt das selten in der internationalen Presse. Und erst im Februar wurden 110 Mädchen von Boko Haram entführt. Das Risiko bleibt weiterhin hoch.
Wo ist Boko Haram denn genau aktiv?
Es gibt Gegenden im Nordosten, die Boko Haram als Rückzugsgebiet dienen, der Sambisa-Forest zum Beispiel, nicht weit entfernt vom Ort Chibok, ein dichtes Sumpfgebiet, unheimlich schwierig zu kontrollieren. Gleichzeitig hat Boko Haram die Möglichkeit genutzt, sich in Nachbarländer zurückzuziehen, etwa nach Kamerun, Niger, oder in den Tschad.
Boko Haram bekannte sich 2015 zum «Islamischen Staat». Weiss man, ob Boko Haram Unterstützung erfährt von anderen islamistischen Organisationen?
Auch innerhalb von Boko Haram gibt es verschiedene Gruppierungen mit unterschiedliche Ideologien und Methoden. Nur ein Teil von Boko Haram bekannte sich zum «IS». Diese Treuebekundung muss man aber in einem grösseren Kontext sehen. Der «IS »war zu jenem Zeitpunkt unheimlich erfolgreich, es war sehr populär, dem «IS» Treue zu schwören, man konnte so grosse Aufmerksamkeit erzeugen. Wie konkret diese Beziehungen sind, ob zum Beispiel Kämpfer im Irak oder in Syrien ausgebildet wurden, dazu kann ich mich nicht äussern. Es gibt aber Vermutungen, dass Boko Haram auch aus dem Ausland finanziert wird.
Wie ist die wirtschaftliche und soziale Lage im Nordosten?
Der Nordosten von Nigeria wurde lange Zeit sehr vernachlässigt. Es wäre ungemein wichtig, in diesem Gebiet grossflächig in ländliche Entwicklung zu investieren und Ressourcen gerecht zu verteilen. Die katastrophale Wirtschaftslage gepaart mit wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten ist einer der Haupttreiber für politische Konflikte. Ein gerechter Zugang zu Ressourcen und ihre nachhaltige Nutzung liegt im Interesse aller.
Nächstes Jahr stehen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen an. Inwiefern beeinflusst der Kampf gegen Boko Haram die politische Lage in Nigeria?
Wie gesagt, die Sicherheitslage hat sich in den letzten Monaten wieder verschärft. Wir befinden uns jetzt im Vorwahlkampf, es geht um politische Weichenstellungen. Viele Menschen sind extrem unzufrieden mit der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Lage und wollen eine Veränderung herbeiführen. Zu Tausenden registrieren sich Bürger als Wähler. Und in dieser Gemengelage gibt es eben auch Kräfte, die versuchen, die Stimmung aufzuheizen und und Konflikte religiös aufzuladen, Muslime gegen Christen, um schlussendlich politisch Profit daraus zu schlagen.
Ist es absehbar, dass die restlichen Entführten bald freikommen?
Nein, man weiss schlicht nicht, ob da in Zukunft Bewegung in die Sache kommt. Ganz abgesehen davon weiss man auch nicht, wie viele von den Entführten überhaupt noch am Leben sind und ob sie sich noch auf nigerianischem Boden befinden. Wichtig ist, dass die Regierung den Dialog mit den Terroristen aufrechterhält und auch die Schweizer Regierung den Dialog mit der nigerianischen Regierung aufrechterhält, damit das Thema auf der politischen Agenda bleibt.
Welche Rolle spielte damals die sogenannte «Bringbackourgirls»-Kampagne?
Eine sehr grosse. Die internationale Aufmerksamkeit ist entscheidend dafür, dass positive Schritte erreicht werden. Erstens erzeugt sie Druck auf die politischen Entscheidungsträger und zweitens vermittelt sie der Bevölkerung ein Gefühl von Solidarität und stärkt ihnen den Rücken.