Herr Olsansky, Sie sind Militärhistoriker und Dozent für Militärgeschichte. Wie bewerten Sie den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine aus militärischer Sicht?
Die militärisch gesicherte Faktenlage ist unglaublich dünn. Die westliche Welt hat diesen Krieg genauso wenig antizipiert, wie sie nach Kriegsausbruch die ukrainischen Verteidigungsanstrengungen antizipiert hat.
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Es heisst, der russische Präsident Wladimir Putin habe die Widerstandsfähigkeit der ukrainischen Bevölkerung und Armee unterschätzt.
Ein schneller Fall Kiews blieb aus. Dementsprechend euphorisiert wird über den ukrainischen Abwehrkampf berichtet. Aber schon in nur ein bis zwei Wochen kann die Lage wieder ganz anders aussehen.
Sie gehen also auch nicht davon aus, dass sich die russische Armee zurückzieht?
Das erscheint mir völlig unwahrscheinlich. Das russische Militär wird seine Operation nicht wegen der Schwierigkeiten der ersten Kampftage nun einfach abbrechen. Putin braucht ein militärisches Minimalresultat.
Könnte das russische Militär in eine Art Zerstörungskrieg übergehen?
Ich glaube nicht, dass das russische Militär Land und Städte im grossen Stil verwüsten wird oder ganz anderen Formen der Kriegsführung den Vorzug gibt. Die russischen Streitkräfte werden primär jene ukrainischen Städte angreifen, deren Besitz für den russischen Feldzug operativ und strategisch wichtig ist.
Womit ist dann zu rechnen?
Wahrscheinlich scheint mir, dass die russische Armee an der Nord-, Süd- und Ostfront weiter vormarschiert. Dabei müssen die russischen Truppen die grossen Städte nicht zwingend gleich erobern, auch Kiew nicht. Vielmehr scheinen sie primär entlang der grossen Verkehrsachsen vorzustossen und diese kontrollieren zu wollen.
An der Nordfront scheint das russische Militär nicht so vorwärtszukommen wie geplant.
Im Süden kommen sie hingegen ziemlich gut voran, sowohl Richtung Norden entlang des Dnjeprs als auch an den Küsten. Langfristig drohen damit die starken ukrainischen Kräfte an der Ostgrenze zu den Separatistengebieten von der Zentralukraine abgeschnitten zu werden. Das hätte wohl die Zerschlagung dieser Truppen zur Folge und würde die ukrainische Armee massiv schwächen.
Das heisst, Sie rechnen damit, dass es dem russischen Militär gelingt, Teile der Ukraine zu besetzen?
Mittelfristig scheint mir eine zumindest temporäre militärische Besetzung des ukrainischen Gebiets östlich des Dnjeprs durch die russischen Streitkräfte durchaus realistisch. Eventuell gelingt es ihnen auch, die Ukraine vom Schwarzen Meer abzuschneiden. Damit hätte die russische Führung ein starkes Faustpfand für politische Verhandlungen zur Zukunft des Rest des Landes in der Hand.
Kann die ukrainische Armee dem nichts mehr entgegensetzen?
Bei allen bisherigen Verteidigungserfolgen hat die ukrainische Armee doch an Kampfkraft eingebüsst. Britische Militärexperten erklärten sie heute Morgen auf BBC World als «no longer functioning in military formations». Insbesondere scheint sich die ukrainische Armee operativ nicht mehr im grösseren Mass bewegen zu können, ganz anders als die russische Armee, die derzeit mit gigantischen Konvois massive Kräfte Richtung Kiew verlegt.
Viele Armeeangehörige und Zivilpersonen sind wild entschlossen, ihr Land zu verteidigen. Welche Strategien bleiben Ihnen noch offen?
Was der ukrainischen Armee in den folgenden Tagen und Wochen wohl bleibt, ist der statische Kampf um Positionen und Verteidigungslinien. Die Frage ist, wie lange das noch geht. Im Falle der skizzierten Fortsetzung des russischen Angriffskrieges wird den Ukrainern aber wohl gar nichts anderes übrig bleiben, als sich in ihre Städte und das überbaute Gebiet zurückzuziehen. Die Frage wird sein, wo die russische Armee diesen Kampf annimmt.
Wieso greift das russische Militär mit Bodentruppen an? Wieso nicht aus der Luft?
Das ist eine gute Frage, für die es derzeit nicht viele plausible Antworten gibt. Wir wissen kaum darüber Bescheid, welcher Anteil der ukrainischen Militäranlagen bisher aus der Luft zerschlagen wurden. Ich würde aber nicht ausschliessen, dass die intensivierte Kriegführung aus der Luft und mit Raketen russischerseits noch bevorsteht. Der Beschuss des Fernsehturms von Kiew könnte hier eine neue Phase einläuten.
Viele europäische Länder haben der Ukraine Waffenlieferungen in Millionenhöhe versprochen. Kommen diese Lieferungen überhaupt noch rechtzeitig an?
Am Montag rechneten Experten des österreichischen Bundesheeres öffentlich damit, dass die ersten Waffenlieferungen in etwa einer Woche zur ukrainischen Armee gelangen könnten. Dabei dürfte es sich vor allem um Handfeuerwaffen und Munition sowie Luftabwehr- und Panzerabwehrwaffen handeln. Grössere Waffenlieferungen sind logistisch natürlich komplexer und man darf nicht vergessen, dass deren Einsatz eine entsprechende Ausbildung voraussetzt. Sie könnten der ukrainischen Armee jetzt 500 neueste Kampfpanzer hinstellen, aber bis diese operativ einsetzbar wären, bräuchte es eine Ausbildungszeit von Monaten. Die Wirkung dieser Waffenlieferung ist daher gesamthaft schwer einzuschätzen.
Fassen wir zusammen: Die russischen Streitkräfte sind der ukrainischen Armee zahlenmässig massiv überlegen. Und doch klappte wenig nach Plan. Könnte das beim weiteren Vordringen nicht auch harzig werden?
Die russischen Bodentruppen schienen tatsächlich in den ersten Angriffstagen wohl eher unerwartete Schwierigkeiten gehabt zu haben in Sachen Führung, Logistik, Kampfmoral – das muss aber langfristig nicht viel heissen. Zum Vergleich: Auch im Tschetschenienkrieg der 1990er Jahre, im sowjetisch-finnischen Winterkrieg von 1939/40 oder auch bei der militärischen Invasion Ungarns im Jahre 1956 klappte auf russischer Seite zu Beginn vieles nicht und die Verluste waren gross. Doch langfristig setzten sich die russischen beziehungsweise sowjetischen Streitkräfte dann doch durch, weil dieser grosse Militärapparat einfach immer nochmal Kräfte drauflegen kann.
Masse statt Klasse.
Dies wird je länger dieser elende Krieg dauert, eine immer grössere Rolle Spielen.