In den frühen Morgenstunden des 5. März 2002 ist das Restaurant «Seafood Market» im Stadtzentrum von Tel Aviv gerappelt voll. Ein orientalischer Musikabend und ein Junggesellinnenabschied füllen das Lokal, das nur 250 Meter von einem Gemeinschaftszentrum für Holocaust-Überlebende entfernt liegt.
Um 2.10 Uhr eröffnet ein palästinensischer Attentäter das Feuer auf das Restaurant. Nachdem er zwei Magazine seines M16-Sturmgewehrs leergeschossen hat, wirft er zwei Handgranaten. Sie detonieren nicht. Der Mann rennt darauf zu einem benachbarten Restaurant, zieht ein Messer und sticht wahllos auf Zivilisten und herbeigeeilte Polizeibeamte ein.
Als er von herbeigeeilten Sicherheitskräften erschossen wird, sind drei seiner Opfer bereits tot: zwei Restaurantbesucher und ein Polizist. Der Attentäter handelte im Auftrag der Al-Aqsa-Märtyrer-Brigaden. Sie sind ein bewaffneter Ableger der palästinensischen Fatah-Partei. Oberster Kommandant der Terrororganisation: Marwan Barghouti, der Generalsekretär der Fatah im Westjordanland.
Einen Monat später wird Barghouti in Ramallah von der israelischen Armee verhaftet und 2004 von einem Gericht verurteilt. Wegen Mord und Anstiftung zu Mord in fünf Fällen, darunter die Opfer im «Seafood Market», wird er mit fünffacher lebenslänglicher Haft bestraft. In 21 Morden, die ebenfalls auf das Konto der Al-Aqsa Märtyrer-Brigaden zurückgehen, wird Barghouti aus Mangel an ausreichenden Beweisen freigesprochen.
Seit 15 Jahren sitzt Marwan Barghouti unterdessen in israelischen Gefängnissen. Am Montag kündigte er in einem Gastbeitrag in der «New York Times» an, dass er gemeinsam mit anderen palästinensischen Gefangenen die Nahrungsaufnahme verweigern werde. Seinem Beispiel folgen etwa 1300 Häftlinge. Sie wollen hungern, bis Israel ihre Haftbedingungen verbessert; längere Besuchszeiten für Angehörige, das Ende der Isolationshaft sowie verbesserter Zugang zu medizinischer Versorgung und Bildung zählen zu ihren Forderungen.
Die «New York Times» bezeichnet Barghouti am Ende des Gastbeitrags als «palästinensischen Führer und Parlamentarier». Über die Taten, die zu seiner Verurteilung geführt haben, verliert sie kein Wort. Barghouti selber schreibt lediglich von seiner Strafe und seiner Weigerung, die Legitimität des Gerichtsverfahrens anzuerkennen.
Damit löste die Zeitung einen Shitstorm aus und musste ein Korrigendum abdrucken. Der Sprecher von Israels Ministerpräsident twitterte sarkastisch, er warte gespannt auf Meinungsbeiträge der Ärzte Bashar Al-Assad und Aiman al-Sawahiri. Der syrische Diktator und der Führer der Al-Qaida haben beide Medizin studiert.
Weshalb überhaupt kann ein seit 15 Jahren inhaftierter, verurteilter Terrorist einen Meinungsbeitrag im New Yorker Weltblatt veröffentlichen? Weil Marwan Barghouti viel mehr als bloss Häftling ist. Sein Hungerstreik hat Folgen weit über die Gefängnismauern hinaus.
Barghouti ist die mit Abstand populärste Figur der palästinensischen Politik. Die alternde Führung der Palästinenser im Westjordanland um den 82-jährigen Präsidenten Mahmoud Abbas hat wegen Korruption, Vetternwirtschaft und ihrer Kooperation mit der verhassten Besatzungsmacht Israel im Volk kaum mehr Rückhalt. Barghouti hingegen ist während seiner Inhaftierung im palästinensischen Volk zum strahlenden Helden geworden.
Im Westjordanland geboren, erlebt Barghouti als 9-Jähriger die Besetzung seines Dorfes durch israelische Truppen als Folge des Sechstagekriegs. Mit 15 wird er bei einer Demonstration zum ersten Mal verhaftet. Während der ersten Intifada, die 1989 ausbricht, steigt er zu einer der respektiertesten jungen Führungsfiguren des Aufstands der Palästinenser auf, deren langjährige politische Anführer zu diesem Zeitpunkt im Exil in Tunesien sitzen.
Barghouti unterstützt das 1994 unterzeichnete Oslo-Friedensabkommen zwischen Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO. 1996 wird er in den ersten Wahlen ins palästinensische Parlament gewählt. Diesen Sitz hält er seither ununterbrochen, obwohl er in den 15 Jahren seiner Haft an keiner Sitzung mehr teilnehmen kann.
Im Parlament kritisiert Barghouti die Korruption der neuen palästinensischen Verwaltung und die Misshandlungen durch die Sicherheitskräfte von Palästinenserpräsident Jassir Arafat. Nach dem Scheitern des Oslo-Abkommens bricht 2000 die zweite Intifada aus. Barghouti setzt als Anführer der Al-Aqsa-Märtyrer-Brigaden wieder auf Gewalt, auch wenn er sich in der Öffentlichkeit gegen Anschläge auf Zivilisten innerhalb Israels ausspricht.
Ab 2002 in Haft, nimmt sein Einfluss weiter zu. Immer wieder gelingt es ihm von der Zelle aus, Waffenstillstandsabkommen zwischen verfeindeten palästinensischen Gruppierungen zu vermitteln. Barghouti ist die einzige Figur, der eine Versöhnung zwischen der Fatah und der islamistischen Hamas im Gazastreifen zugetraut wird.
Die Vorstellung eines zukünftigen Anführers, der die zerstrittenen Palästinenser wieder vereint, behagt Israels Premier Netanjahu nicht. Als Reaktion auf den Hungerstreik wird Barghouti sofort in Isolationshaft gesteckt. Israelische Sicherheitskreise hingegen haben sich mehrfach dafür ausgesprochen, Barghouti als Verhandlungspartner zu anerkennen. Denn Barghoutis Rolle könnte schon bald viel grösser sein als bloss der Anführer eines Hungerstreiks.
«Es gibt keinen Zweifel daran, dass Barghouti der nächste palästinensische Präsident sein wird», sagt der ehemalige Justizminister Chaim Ramon vor einem Jahr zur israelischen Zeitung «Ha’aretz». Efraim Halevy, Ex-Boss des israelischen Geheimdienstes Mossad, meint gegenüber «Al-Jazeera»: «Wenn die Palästinenser Barghouti wählen, müssen wir mit ihm reden.»
Israels Staatspräsident Reuven Rivlin lehnt eine Freilassung Barghoutis zurzeit ab. Doch auch er meint, dass Israel in einer nicht allzu fernen Zukunft dazu gezwungen sein könnte. Rivlin glaubt, dass ein zum Präsidenten gewählter Häftling Barghouti eine Wirkung wie einst Nelson Mandela entwickeln könnte. Die internationale Gemeinschaft würde Druck für seine Freilassung ausüben. Dann wäre es gegen Israels Eigeninteresse, ihn im Gefängnis zu behalten.
Der amtierende palästinensische Präsident Abbas ist mit seinen 82 Jahren gesundheitlich angeschlagen und wirkt müde. Seine ordentliche Amtszeit endete 2009, seither regiert er per Dekret und ohne demokratisches Mandat. Abbas hat bis heute keinen eindeutigen Nachfolger aufgebaut. Laut Umfragen würde Marwan Barghouti Neuwahlen mit rund 60 Prozent der Stimmen gewinnen. Gegenüber «Le Monde» liess der mögliche «Mandela Palästinas» vor einem Jahr verlauten: «Meine Freilassung ist unausweichlich. Früher oder später.» Möglich, dass er das Gefängnis als palästinensischer Präsident verlässt.