Neukaledonien ist französisches Staatsgebiet. Nun eskaliert die Gewalt im Inselparadies: Vier Nächte in Folge kam es diese Woche zu gewalttätigen Auseinandersetzungen auf der Insel Neukaledonien. Während zahlreiche Gebäude in Brand gesteckt, Supermärkte geplündert und Strassen blockiert wurden, mussten bewaffnete Streitkräfte die beiden Flughäfen und den Hafen von Neukaledonien schützen. Am Freitag kündigte der französische Premierminister Gabriel Attal die Entsendung von 1000 zusätzlichen Einsatzkräften an, die die Kollegen vor Ort unterstützen sollen. Unter anderem trafen bereits Mitglieder der französischen Eingreiftruppe der Nationalgendarmerie (GIGN) aus Polynesien ein.
In drei Gemeinden des französischen Überseegebiets sahen sich die Gendarmen mit tausenden Randalierern konfrontiert. Die Bilanz am Freitag: fünf Tote, über hunderte Verletzte, darunter viele Streitkräfte und Polizisten, sowie mehr als 200 Festnahmen.
Der Grund für die Ausschreitungen ist eine geplante Verfassungsreform. Von aussen betrachtet mag die eklatante Gewalt darob nur schlecht nachzuvollziehen sein. Wer Neukaledonien schon besucht hat, den verwundert sie hingegen nicht. Ende 2023 durfte ich drei Monate lang die Insel bereisen. Das gab mir die Einsicht: Den Hintergrund der Reform bilden ein gespaltenes Land, massive koloniale Rückstände und offener Rassismus, ein Milliardengeschäft mit Rohstoffen – und zwei Seiten mit wenig Verständnis füreinander.
Diese Woche nahmen die Abgeordneten in Paris den Entwurf einer Verfassungsreform über das Wahlrecht seines Überseegebiets an, der den Zorn der Unabhängigkeitsbefürworter auf Neukaledonien auf sich gezogen hatte. Der Entwurf bedarf noch der Zustimmung von drei Fünfteln des gesamten Kongresses, der für besondere Anlässe im Schloss Versailles einberufen wird.
Die Reform will neu den Tausenden französisch-stämmigen Wählerinnen und Wählern, die seit über zehn Jahren ununterbrochen in Neukaledonien gelebt haben, das Wahlrecht auf der Insel einräumen. Sie würden somit mehr politischen Einfluss bekommen – speziell bei wichtigen Provinzwahlen.
Seit einer Verfassungsänderung 2003 ist die Inselgruppe Neukaledonien eine «zu Frankreich gehörige Überseegemeinschaft mit besonderem Status». Wahlberechtigt sind bis heute nur Einheimische sowie Zugewanderte aus dem französischen Festland, die seit mindestens 25 Jahren dort leben. Diese Regelung sollte die zahlenmässige Überlegenheit des einheimischen Kanak-Volks gegenüber Zugezogenen auch im politischen Gefüge sicherstellen.
«Neukaledonien braucht Frankreich. Sonst endet es wie Vanuatu, das sich unabhängig gemacht hat und seither zerfällt.» Das sagten mir Franzosen auf Neukaledonien, wenn ich sie nach der schwierigen Beziehung der Insel zu Paris fragte. Die befragten Zugewanderten sind sich erstaunlich einig: Die Einheimischen sind ihnen rechtlich mindestens gleichgestellt, Neukaledonien ist faktisch fast unabhängig. Vielleicht war es vor über zweihundert Jahren einmal überhaupt nicht okay, hat man ihnen ihr Land gestohlen. Aber Frankreich hat der Pazifikinsel Wohlstand gebracht, diesen gilt es jetzt weiter zu erwirtschaften, so der Tenor.
Rund die Hälfte der Kanaken ist noch heute in «tribus», also in Stämmen, organisiert. Sie führen eine sehr traditionelle, oftmals autonome Lebensweise. 2019 herrschte unter ihnen eine Arbeitslosenquote von über 25 Prozent – allerdings bezeichnen sich viele nur offiziell als arbeitslos, gehen aber einer Aufgabe innerhalb des Stammes nach, wie Pflanzenanbau, Fischerei oder Handwerk. Kanaken leben von und mit der Natur, sie ist ihr wichtigstes Gut und ihre Lebensgrundlage.
Der Vorwurf der Kanaken, die französischen Gesetze würden ihrer Lebensweise zu wenig gerecht werden, erscheint mir bei Besuchen auf ihren Grundstücken nachvollziehbar: Die fast schon autarke Lebensform – Lebensmittel werden selbst angepflanzt und auf Märkten verkauft, die kleinen Häuser sind oft fernab der Strassen – gleicht nicht im Geringsten der Art, wie die Französinnen und Franzosen wenige Kilometer entfernt in der Hauptstadt, geschweige denn auf dem Festland, leben.
Im Rahmen der Dekolonialisierung wurde vereinbart, bis zu drei Volksabstimmungen über die Unabhängigkeit abzuhalten, die 2018, 2020 und 2021 stattfanden. Eine Mehrheit der Bevölkerung sprach sich bei allen drei Befragungen für einen Verbleib bei Frankreich aus. Die Unabhängigkeitsbewegung boykottierte allerdings das letzte Votum und kündigte an, das Ergebnis nicht zu akzeptieren. Die Kanakische sozialistische Front der nationalen Befreiung (FLNKS) hatte Frankreich zuvor gebeten, das Referendum zu verschieben. In ihren Augen war ein gerechter Wahlkampf aufgrund der Pandemie nicht möglich. Der Antrag wurde jedoch von der Pariser Regierung abgelehnt.
Etwa 270'000 Menschen leben in Neukaledonien. Mehr als 40 Prozent davon gehören zur Urbevölkerung der Melanesier, auch Kanaken genannt. Den zweitgrössten Teil bilden Europäer: die sogenannten «Caldoches» – Franzosen, die von frühen Siedlern abstammen – sowie die als Métropolitains bezeichneten in neuerer Zeit Zugewanderten aus Frankreich.
«Ihr reist einen ganzen Monat durchs Land? Was wollt ihr so lange dort machen? Was gibt es denn dort?» Viele Franzosen in Nouméa reagierten so oder ähnlich auf unsere Pläne, mindestens einen Monat lang die Insel – ausserhalb der Hauptstadt – zu bereisen. (Am Ende wurden es zwei.) Uns fiel auf, dass viele Franzosen stark auf Nouméa und die nahe Umgebung fixiert waren und die Regionen ausserhalb nur schlecht kannten. Zudem wurden wir mehrfach vor der indigenen Bevölkerung gewarnt. Diese hätten nicht gerne Weisse und könnten uns gefährlich werden. Einmal bezeichnete ein Franzose uns gegenüber die Kanaken deswegen als «rassistisch».
Die allermeisten aus Frankreich Zugewanderten leben in der Hauptstadt Nouméa. Vom Tennis- und Paddelplatz über den Bioladen und das Fitnesszentrum bis zu den Stränden zum Windsurfen hat es dort alles. Der Grossteil der Einwohnerinnen und Einwohner in den «guten», sicheren Quartieren ist weiss, gesprochen wird nur Französisch. Abends trifft man sich in der Ausgangsmeile zu «Moules et Frites» und zum Dartspielen, die Stange Bier kostet hier gerne mal 6 Franken. Sowieso erscheint das Preisniveau, das dem der Schweiz erstaunlich ähnlich ist, viel zu hoch für die dortigen Löhne. Die indigenen Kanaken sind hier kaum anzutreffen. Sie leben in den äusseren Stadträndern – dort, wo es Fabriken und grosse Strassen hat.
Nouméa ist eine schöne Hauptstadt. Aber wo es richtig paradiesisch wird, ist ausserhalb. Hier finden sich kaum Französinnen und Franzosen: Dort, wo wunderschöne, menschenleere Strände, verlassene Dschungelpfade und Berge mit Wasserfällen locken, hier draussen ist Kanaken-Land. Doch das Bild ist immer mal wieder geprägt von riesigen Minen, in denen seit 150 Jahren Nickel abgebaut wird und die karge Quadrate in die grüne Landschaft reissen.
«Wenn die Franzosen nicht wären, würden die Chinesen Neukaledonien übernehmen. Und die wären noch viel schlimmer.» Viele Métropolitains rechtfertigten mir gegenüber so ihre Überzeugung, Neukaledonien dürfe nicht unabhängig werden. Frankreich baue den Einheimischen Strassen, Schulen und gibt ihnen Arbeit. Was nie jemand betonte: Frankreich baut auch ihr Nickel ab, greift so erheblich in die Ökosysteme der Insel ein und zerstört Natur, die für die Einheimischen seit Generationen heilig ist.
Neukaledonien ist weltweit der viertgrösste Nickelproduzent. Je nach Schätzung befinden sich 10 bis 30 Prozent des globalen Nickel-Vorkommens auf dieser Insel. Nickel ist ein rares und teures Material, das zur Stahlveredelung gebraucht wird und in unseren Akkus unerlässlich ist – entsprechend wird es als Rohstoff immer wichtiger.
Tatsächlich bringt China immer mehr Nickelminen in Asien, zum Beispiel in Indonesien, unter seine Kontrolle. Für Frankreich und Europa sind eigene Nickelvorkommen daher von grösster geopolitischer und ökonomischer Wichtigkeit. In Neukaledonien gehören die drei grössten Nickelwerke teilweise dem französischen Staat, teilweise einer neukaledonischen Gesellschaft. Ein Werk gehört zudem zu 49 Prozent (noch) der Schweizer Firma Glencore, dort sind allerdings auch einheimische Kanak-Gruppen beteiligt.
Die Bevölkerungsgruppe der Kanak, die ihr Land selbst «Kanaky» nennen, hofft seit Jahrzehnten auf einen eigenen Staat. Die Unabhängigkeitsbestrebungen begannen ab 1980 und führten immer wieder zu teils gewaltsamen Aufständen, die auch mithilfe der über 1200 dort stationierten Militärangehörigen mitunter gewaltsam unter Kontrolle gebracht werden. Die Radikalisierung der Unabhängigkeitsfordernden folgte auch auf immer repressivere Reaktionen der Polizei und des Militärs. Neben der Unterstützung der örtlichen Gendarmen ist das Militär auch als Markierung der geostrategischen Präsenz Frankreichs im südlichen Pazifik von Bedeutung.
Im Norden der Insel werden wir einmal von zwei Soldaten aus Paris zu einem Bier eingeladen. Sie erzählen uns von ihrem Einsatz auf Neukaledonien: mehrere Tage am Stück harte Arbeit, danach zwei Tage frei, in denen sie im Pazifik baden, fischen und die Insel bereisen können. Viele von ihnen sind von der «Métropole» (französisches Festland) und sind nur ein bis zwei Jahre dort stationiert. Von der einheimischen Bevölkerung halten sie wenig. Immer wieder würden diese Ärger bringen, protestieren und Strassen blockieren. «Deshalb müssen wir die Insel beschützen», sagt uns der Ältere von beiden. Kurz darauf raunt er mir zu (auf Spanisch, damit ihn niemand verstehen kann): «Die Kanaken arbeiten nicht gerne, sie sind faul. Da sind sie halt einfach anders als wir.» Als Beweis sieht er die leere Theke, wo uns die Angestellte aufgrund der späten Uhrzeit kein neues Bier mehr ausgeben will.
Die Bevölkerung der Kanaken litt lange Zeit unter systematischer Unterdrückung. Heute sind sie zwar rechtlich der weissen Bevölkerung gleichgestellt – dennoch ist die Ungleichheit, die durch die Kolonisierung entstanden ist, wohl an wenigen Orten auf der Welt so sichtbar wie in Neukaledonien. Ein Grossteil der Indigenen lebt unter der Armutsgrenze, viele leiden an Alkoholismus.
Die Franzosen seien vor allem am Nickel interessiert. Es ist eine Auffassung, die in Gesprächen mit Einheimischen immer mal wieder durchschimmert. Gleichzeitig drücken sich die Kanaken uns gegenüber diplomatisch aus, Diskussionen über Politik werden oft gemieden. Von den «Weissen» war aber immer wieder zu hören: Verbringst du einen Abend mit ihnen und fliesst Alkohol, wird es dann schon laut und politisch.
Nicht alle Einheimischen sind gleich politisch und nicht alle gleich radikal. Viele von ihnen haben sich auch gegen die Unabhängigkeit ausgesprochen und anerkennen umgekehrt die Abhängigkeit Neukaledoniens von den Millionenzahlungen aus Frankreich. Für viele geht aber die anstehende Verfassungsänderung zu weit. Zu den heutigen Protesten sagt ein Aktivist gegenüber einem französischen News-Portal: «Uns geht es um die Wahrung des Rechts des Kanakvolks, aber auch um die Anerkennung der Opfer der Geschichte.» Und: Die Verfassungsänderung käme einer «Re-Kolonialisierung» seines Volkes gleich. Eine weitere Aktivistin verurteilt die Gewalt und die Plünderung und meint:
Der nationale Rat der Kanaken – Inaat Ne Kanaky – verurteilte derweil «den ungerechtfertigten Vandalismus und die Gewalt mit Schusswaffengebrauch auf öffentlichen Strassen» und forderte die Festnahme der Verantwortlichen. Gleichzeitig bedauere der Rat, dass die französische Regierung die umstrittene Verfassungsreform angenommen habe, ohne den Widerstand der grossen Mehrheit der indigenen Bevölkerung zu berücksichtigen.
Will man ein Grundstück eines bestimmten Kanak-Stammes überqueren, gehört es zum guten Ton, das Stammesoberhaupt um Erlaubnis zu fragen. Oft merkt man, dass nur sehr selten Europäer vorbeikommen: Manchmal werden wir skeptisch beäugt, danach folgt aber meist ein Winken mit einem Lächeln. Grundsätzlich wird jedes vorbeifahrende Auto gegrüsst – egal, wer darin sitzt. Und immer spüren wir: Sobald wir ins Gespräch kommen und die Menschen merken, dass Französisch nicht unsere Muttersprache ist, entspannt sich ihre Haltung uns gegenüber. Wir werden über unsere Herkunft ausgefragt, umgekehrt zeigen uns die Menschen mit viel Stolz ihre Handwerkskunst oder erzählen von ihrer Organisation in den «tribus».
Wir haben auf Neukaledonien mit zahlreichen Franzosen gesprochen. Kaum einer unserer Gesprächspartner zeigte Verständnis für die Problematik, die in ihrer Kolonialvergangenheit liegt. Mein Fazit damals, und heute noch viel mehr: Die Ureinwohner auf Neukaledonien sind nicht «rassistisch». Aber sie haben ein Problem mit den Europäern, die sich vor langer Zeit auf ihrem Land niedergelassen haben und deren Nachkommen noch heute wenig Mitgefühl zu zeigen scheinen. Ich kann es ihnen nicht verübeln.