War der Nato-Gipfel in Vilnius ein Erfolg oder nicht? Die Meinungen gehen auseinander. Während die einen die Geschlossenheit der 31 Mitgliedsstaaten und die Freigabe des schwedischen Beitritts durch die Türkei rühmen, beklagen andere, dass die Ukraine kein eindeutiges Versprechen erhielt, so bald als möglich aufgenommen zu werden.
Präsident Wolodymyr Selenskyj machte seinem Ärger schon im Vorfeld auf undiplomatische Weise Luft. Am Ende war er dennoch ziemlich zufrieden, denn ausser einem klaren Fahr- oder Zeitplan erhielt er, was er sich erhofft hatte. Und ein Beitritt noch während des Kriegs mit Russland ist für die meisten Nato-Länder wegen der Beistandspflicht undenkbar.
Es braucht jedenfalls einiges an Fantasie, um wie der «Blick» zum Schluss zu gelangen, Wladimir Putin sei «der unverdiente Sieger von Vilnius». Denn die Ukraine braucht «kein papierenes Bekenntnis der Nato», wie die NZZ schrieb, sondern ganz konkrete militärische Hilfe. Und in diesem Punkt erhielt sie in Litauen wie gewünscht weitere Zusagen.
Es lässt sich nicht bestreiten, dass der Westen bei den Waffenlieferungen zu zögerlich war. Ein vermeintliches Tabu nach dem anderen ist angesichts der Macht des Faktischen gefallen, bei Kampfpanzern, Mittelstreckenraketen und der umstrittenen Streumunition. Aber ohne massive, westliche Unterstützung hätte die Ukraine den Krieg wohl schon verloren.
Im Detail mag es immer wieder Konflikte geben. Dennoch ist es beeindruckend, wie geeint die europäischen und nordamerikanischen Staaten bald eineinhalb Jahre nach Beginn des russischen Überfalls nach wie vor auftreten. Es ist ein wichtiges Signal in einer Zeit, in der sich die westlichen Demokratien unter Druck und tendenziell auf dem Rückzug befinden.
Dafür trumpften autokratische Regime auf. Vor allem China, das auch im Westen für sein vermeintliches Erfolgsrezept bewundert wurde, den Menschen Wohlstand und Effizienz ohne lästige Begleiterscheinungen wie Demokratie und Menschenrechte zu bieten. Nun zeigt sich, dass der «dekadente» Westen robuster ist, als viele glauben.
Bei den Autokratien hingegen blättert der Lack ab. Russland hat sich in der Ukraine verrannt. Der «Operettenputsch» der Wagner-Söldner stellt die vermeintliche Stabilität von Putins mafiösem Regime infrage. China hat beim Ausbruch der Corona-Pandemie und bei ihrer Bekämpfung versagt, und der erwartete Wirtschaftsboom ist bislang ausgeblieben.
Iran kann die Wut seiner jungen Bevölkerung nur mit Mühe und grösster Brutalität unter dem Deckel halten. Saudi-Arabien versucht den Spagat mit wirtschaftlichen Öffnungen und zaghaften Liberalisierungen bei gleichzeitig verschärfter Repression gegen Oppositionelle. Auch in anderen Diktaturen wie etwa Kuba wächst der Unmut.
Diese Entwicklungen sind einem «semiautoritären» Herrscher wie Recep Tayyip Erdogan nicht verborgen geblieben. In letzter Zeit zeigte er eine irritierende Nähe zu Wladimir Putin. Nun erfolgte die Kehrtwende mit der Zustimmung zu Schwedens Nato-Beitritt. Offenbar erwartet er vom Westen mehr Vorteile, nicht zuletzt für die kriselnde türkische Wirtschaft.
Putin wiederum überraschte am Donnerstag in einem Interview mit dem russischen Staatsfernsehen mit der Bemerkung, die Ukraine habe prinzipiell das Recht auf die Wahrung ihrer Sicherheit. Es ist der totale Kontrast zu seinen Hasstiraden vor Kriegsbeginn, als er das Nachbarland als illegitimes Konstrukt von Lenins Gnaden verunglimpft hatte.
Einen ukrainischen Nato-Beitritt lehnt Putin vehement ab, doch der Möchtegern-Eroberer scheint den Druck zu spüren, denn in der russischen Armee rumort es. Dies zeigt der Rauswurf eines Befehlshabers, der die Führung in Moskau scharf kritisiert hatte, und die mutmassliche Kaltstellung des bei den Scharfmachern beliebten Generals Sergej Surowikin.
China wiederum scheint sich nach monatelangen Spannungen und gegenseitigen Attacken um eine Annäherung an die USA zu bemühen. Finanzministerin Janet Yellen war mehrere Tage in Peking, und Aussenminister Antony Blinken traf sich am Donnerstag in Jakarta zum zweiten Mal innerhalb eines Monats mit Chinas oberstem Aussenpolitiker Wang Yi.
In Peking setzt sich offenbar die Erkenntnis durch, dass seine aggressive Aussenpolitik (oder Wolfskrieger-Diplomatie) dem Land mehr schadet als nützt. Seine Nachbarn hat China damit regelrecht in die Arme der USA getrieben, ohne dass Washington viel dafür tun musste. Auch gegenüber Europa setzen die Chinesen auf eine Charmeoffensive.
Die westlichen Demokratien sind definitiv noch nicht verloren. Die grösste Bedrohung für sie kommt derzeit nicht von aussen, sondern paradoxerweise von innen. In Deutschland gibt die permanente Zerstrittenheit der Ampel-Regierung der AfD Auftrieb. Frankreich, der andere Motor in der Europäischen Union, befindet sich in einem andauernden Unruhezustand.
Länder wie Polen, Ungarn und nun auch Israel versuchen, die Unabhängigkeit der Justiz zu demontieren, einen Grundpfeiler der liberalen, auf Gewaltenteilung basierenden Demokratie. In den USA bleibt der Trumpismus eine anhaltende Bedrohung. Immer mehr Republikaner zeigen eine offene Feindseligkeit gegenüber den Errungenschaften der Aufklärung.
Herausforderungen wie der Klimawandel und die künstliche Intelligenz tragen dazu bei, dass der Kampf der Ideologien nicht entschieden ist. Aber für die liberale Demokratie sah es definitiv schon schlechter aus. Das sollte auch die Schweiz beschäftigen, die auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt einen ziemlich desorientierten Eindruck hinterlässt.
Wenn ich mir die steigenden sozialen Probleme anschaue in vielen Ländern, ist das durchaus als Hohn zu empfinden. Für mich ist die Sozialdemokratie gerettet, wenn ein Land in Europa gesamthaft stark, geeint und demokratisch ist. Oder will man die USA als Vorbild???
Der Westen muss aber trotzdem die Probleme der "Wutbürger" ernst nehmen.
Denn gerade Europa hat auch grobe demografische Probleme. Die Politik linderte sie durch Zuwanderung und ignorierte bislang die damit einher gehenden Probleme weitgehend.