Sag das doch deinen Freunden!
Migration ist eine anthropologische Konstante und sie wird das 21. Jahrhundert prägen, wie sie bereits alle vorhergehenden Jahrhunderte in unterschiedlichem Ausmass geprägt hat. Die zwei Hauptursachen sind für die derzeitige Migrationswelle verantwortlich: Fragilität und Mobilität. Die Welt ist fragiler geworden und die Leute deutlich mobiler.
Eine weitere Konstante ist die Tatsache, dass Migranten von ärmeren, unsicheren Gebieten in reichere, sicherere wandern. So überwog in der Schweiz, wie im Historischen Lexikon nachlesbar, ab Mitte des 16. Jahrhunderts die Auswanderung deutlich. Die ökonomischen Perspektiven waren damals besonders für die arme Landbevölkerung düster. Die Auswanderung kam den zuständigen Obrigkeiten meistens zu Pass. Doch dabei blieb es nicht. Aus Furcht vor Übervölkerung ergriffen die «eidgenössischen Orte Massnahmen gegen die Einwanderung, und die Kantone führten diese Politik noch bis zur Gründung des Bundesstaats fort». Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wendete sich das Blatt. Die günstige Wirtschaftslage und die anziehende Industrialisierung führten dazu, dass die Wirtschaft mehr Arbeitskräfte nachfragte als es in der Schweiz gab.
Jetzt, im 21. Jahrhundert, schickt der Bund keine Schweizerinnen und Schweizer ins Ausland. Hingegen wandern tausende Menschen in die Schweiz ein. Teilweise, weil sie hier eine Arbeit finden und ihr Glück suchen (die Mehrheit), teilweise, weil sie vor dem Unglück in ihrer Heimat fliehen (eine Minderheit). Erstere sind die aufgrund der relativ guten Wirtschaftslage – zumindest bis zum «Frankenschock» – normal zuwandernden Arbeitskräfte, die von den hiesigen Firmen gerufen wurden.
Die Schweiz hat immer wieder Wellen der Emigration und Immigration erlebt, am stärksten in Erinnerung sind die jüngeren Einwanderungswellen. Im Zuge der Balkankriege flohen tausende Menschen aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens in die Schweiz. Damals riefen breite Kreise Zeter und Mordio. Doch die Integration der «Jugos», wie die damaligen Flüchtlinge verächtlich genannt wurden, hat funktioniert. Ebenfalls verlief die Integration der Italienerinnen und Italiener nach dem Zweiten Weltkrieg, wie auch die Integration der Deutschen in den 2000er Jahren, letztlich unproblematisch. Ganz zu schweigen von jener der Portugiesen, der drittgrössten Diaspora in der Schweiz nach den Deutschen und den Italienern.
In den letzten Jahren waren es vor allem Hochqualifizierte, die zuwanderten. Derzeit ändert sich die Zusammensetzung der Zuwanderung aufgrund der Krisenherde in Europas Nachbarschaft wieder. Eine offene Gesellschaft muss mit beiden Arten der Immigration zurechtkommen und für die Grundlagen der Integration sorgen. Vielleicht ist Integration auch ein zu grosses Wort, da eine Gesellschaft stets im Fluss ist und selber nicht einmal weiss, in was für einen Zustand hinein genau integriert werden soll. Absorption, um in Termini der Chemiker zu sprechen, eine Vermischung ohne chemische Reaktion also, trifft es eventuell besser. Die gute Absorptionsfähigkeit der Schweiz zeigt sich im Speziellen in Wirtschaftszahlen. Es findet sich keine ernstzunehmende Studie der letzten Jahre, die zeigen würde, dass die hohe Einwanderung negative Effekte auf das Wirtschaftswachstum gehabt hätte.
Selbstverständlich liesse sich argumentieren, dass das theoretisch ausgeschlossen ist, da gemäss neoklassischer Wachstumstheorie die Ausweitung des Produktionsfaktors Arbeit quasi automatisch zu einer Ausweitung der Produktion führen muss. Doch wäre es auch möglich, dass alle Zugewanderten sofort in den Sozialsystemen verschwinden, womit sie als Produktionsfaktor wegfallen würden. Dies ist in der Schweiz allerdings nicht der Fall, ist doch für eine Mehrheit der Einwanderer eine Stelle die erste Bedingung überhaupt, um sich in der Schweiz niederlassen zu dürfen.
Die Konjunkturforschungsstelle der ETH (KOF) hat im Februar letzten Jahres eine umfassende Studie zu den Bilateralen publiziert, die die Effekte der Personenfreizügigkeit ins Zentrum rückte. Dabei hat sich gezeigt, dass die Schweizer Wirtschaft seit der Einführung der Personenfreizügigkeit im Jahr 2002 nicht nur stärker gewachsen ist als die Jahre zuvor, sondern auch pro Kopf ein Wachstum feststellbar war.
Angesichts dieser Erkenntnisse müsste theoretisch jeder am Wachstum und am Überleben der Sozialsysteme Interessierte dankbar sein für die zusätzliche Zuwanderung Hochqualifizierter. Denn die Sozialsysteme funktionieren nur, wenn mehr Leute einzahlen als Leistungen beziehen. Angst vor der Einwanderung von tiefer Qualifizierten hingegen ist unangebracht, da diese oftmals Arbeit übernehmen, die wir selber nicht mehr erledigen wollen.
Aber, wie auch Paul Collier in seiner massgeblichen Migrations-Bestandsaufnahme Exodus schreibt: In der Debatte um Zuwanderung basieren die Meinungen für oder wider praktisch immer auf der eigenen Ideologie. Entweder ist man daran interessiert, dass Leute einwandern, beziehungsweise man hat zumindest keine Angst davor, oder man möchte möglichst unter sich bleiben. Man zieht jene Studie zu Rate, die die eigene These unterstützt. Und wenn man keine Studie zur Hand hat, sagt man einfachheitshalber, die Studien seien falsch, beruhten auf falschen Prämissen, seien verzerrt oder irrelevant. Collier verweist dabei auf den Moralpsychologen Jonathan Haidt. Haidt zeigt in seiner Forschung, dass Menschen sich nicht von einer objektiven Rationalität leiten lassen, sondern sich gerne bei ihren moralischen Entscheidungen von ihren moralischen Emotionen und nicht von ihren moralischen Überlegungen (reasoning) leiten lassen.
Auch der Schreibende lässt sich von seinen grundlegend positiven Emotionen gegenüber Migration leiten. Generell lassen sich Menschen viel stärker von ihren Emotionen leiten, als sich das der aufgeklärte Mensch zugestehen würde. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman und sein verstorbener Kollege Amos Tversky haben in ihrer sogenannten Prospect Theory gezeigt, dass wir deshalb einen Hang zur Risiko-Aversion haben, die rational nicht erklärt werden kann.
Risiko-avers sein heisst tendenziell auch gegen Einwanderung sein, da wir nicht wissen, was auf uns zukommt. Risiko-Aversion ist auch eher eine Tendenz alternder Gesellschaften. Die körperliche Unsicherheit steigt, die Mobilität sinkt. Ein gutes Beispiel hierfür ist Japan, eines der am schnellsten alternden Länder der Welt. Anstatt die Grenzen zu öffnen und neue Impulse zuzulassen, schottet sich Japan ab. Man muss das nicht als Sklerose bezeichnen, aber zu starker Vitalität führt es vermutlich auch nicht.
Japan hätte mit seinen acht Millionen akiya (freistehenden Häusern) eigentlich beste Voraussetzungen, um Leuten Platz zu bieten. Etwas anders mag die Situation in der Schweiz sein. Das Land ist klein, die Zersiedelung stark, die bebaubare Fläche beschränkt. Doch viel davon sind baurechtliche Vorlagen und mentale Einstellungen. Auf der Klaviatur dieser Risiko-Aversion spielt auch die Schweizerische Volkspartei (SVP), die das populistische Spiel mit der Angst perfekt beherrscht. Die restlichen politischen Parteien und Akteure schaffen es nicht, dieser Negativ-Serenade ein positives Narrativ entgegenzustellen.
Zudem gibt es eine spezifisch schweizerische und system-immanente Ausprägung der Risiko-Aversion, die auch als Status-quo-Verzerrung bezeichnet werden kann: jene des politischen Systems. In den 1990er Jahren gab es in der Schweiz angesichts der schleppenden Wirtschaftsentwicklung eine stark – und teilweise einseitig – ökonomisch geprägte Kritik an der direkten bzw. halbdirekten Demokratie. Obwohl Teile der Kritik später empirisch widerlegt wurden, kann ein Vorwurf, jener der Status-quo-Verzerrung, nicht gänzlich widerlegt werden. Die meisten angenommenen Initiativen sind Negativ-Projekte, die weniger von einem positiven Gestaltungswillen als eher von einer Regressions-Haltung geprägt sind, mit der ein vermuteter Urzustand wiederhergestellt werden soll. Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen, dass Initiativen als Korrektiv zur Politik und als Ventil dienen.
Es gibt aber auch eine andere Theorie für die Abneigung gegenüber der Immigration und für die Unterstützung populistischer Anliegen gegenüber dieser. Martin Wolf hat sie kürzlich in der «Financial Time» so erläutert: «Losers have votes too». Und mit Verlierern meint er vor allem einheimische Männer, die unter die Räder der ausländischen Konkurrenz gekommen sind und gleichzeitig Eliten als Feindbild sehen. Die Migrationsforschung ist sich einig, dass die Immigration Gewinner und Verlierer hervorbringt (wie etwa internationaler Handel auch) – unter anderem auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt. Für die Schweiz lassen sich systematische Verdrängungseffekte – selbst von Subgruppen der Bevölkerung – allerdings nicht nachweisen. Das liegt vielleicht daran, dass die ansässigen und zuwandernden Firmen in starkem Ausmass auf die Zuwanderer angewiesen sind und ohne diese gar nicht auf die Schweiz als Produktionsstandort gesetzt hätten.
Somit bleibt als Erklärung für die politische Stimmung, die derzeit herrscht, eine übertriebene Betonung der möglichen Gefahren, eine übertriebene Sehnsucht nach einem idealisierten Vor-Zustand, ein unmöglicher Abschottungsversuch vor einer sich stetig im Wandel befindenden Welt. Als Gegennarrativ zum Abschottungsdogma böte sich mit dem Soziologen Zygmunt Bauman ein Europa und mit ihm eine Schweiz als ein «Mosaik von Diasporas und eine Ansammlung von überlappenden und sich kreuzenden ethnischen Archipelen» an.