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Russland

Mit diesem Video tritt Julia Nawalnaja das Erbe ihres Mannes an

Yulia Nawalnaya im Video, 19. 2. 2024
«Ich habe keine Angst»: Yulia Nawalnaya am Montag in einer knapp neunminütigen Videobotschaft. Bild: screenshot youtube

«Ich habe keine Angst»: Julia Nawalnaja übernimmt – gegen ihren Willen

Julia Nawalnaja stellt klar: Sie wird ihren Mann in seinem Kampf gegen Wladimir Putins Russland beerben. Damit gibt sie sich selbst, die nie als politische Figur gelten wollte, eine neue Rolle. Denn: Sie habe keine andere Wahl.
21.02.2024, 06:57
Lara Knuchel
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«Hallo, hier ist Julia Nawalnaja», sagt Alexej Nawalnys Witwe mit festem Blick in die Kamera. Sie meldet sich zum ersten Mal auf dem Youtube-Kanal, der zuvor von ihrem Mann bedient wurde – und von ihm stets mit dem Satz «Hallo, hier ist Nawalny!» begonnen wurde. «Ich sollte nicht hier sein», sagt Nawalnaja. Jemand anderes sollte an ihrem Platz sitzen, «aber diese Person wurde von Putin getötet».

Bereits wurde spekuliert, besonders von Nawalnys Anhängern, wer die Lücke, die der Oppositionskritiker nach seinem Tod hinterlässt, füllen sollte. Im knapp neunminütigen Video stellt Nawalnaja klar: Sie wird ihren Mann mit seinem Kampf gegen Wladimir Putin beerben. Und damit vielleicht sogar zur neuen Führungsfigur der Bewegung gegen den russischen Autokraten werden.

«Putin hat die Hälfte von mir getötet, die Hälfte meines Herzens und die Hälfte meiner Seele. Aber ich habe noch eine Hälfte übrig, und die sagt mir, dass ich kein Recht habe, aufzugeben.»

Mit gefalteten Händen auf einem Marmortisch und in dramatisch ausgeleuchtetem Setting sagt die 47-Jährige: «Ich werde die Arbeit von Alexej Nawalny fortsetzen und weiter für unser Land kämpfen.» Nawalnaja ruft ihre Unterstützer dazu auf, ihr dabei zu helfen. «Ich bitte euch, meine Wut zu teilen – meine Wut, meinen Zorn und meinen Hass auf diejenigen, die es gewagt haben, unsere Zukunft zu zerstören.»

Rampenlicht wider Willen

Nawalnajas Video kommt einem Startschuss gleich, sorgfältig inszeniert, mit bewegter Musik unterlegt, und mit klarer Idee dahinter. Das Video könne als eine Art «Einführung einer neuen Anführerin der zersplitterten pro-demokratischen Bewegung gegen Putin» gesehen werden, beschreibt es zum Beispiel die «New York Times».

Dabei schien das bis vor Kurzem noch eher unwahrscheinlich. Zwar unterstützte Julia Nawalnaja ihren Mann von Beginn an, wo sie konnte. «Ich war über all die Jahre immer an Alexejs Seite», so die Russin in ihrer Videobotschaft, «Wahlen, Kundgebungen, Hausarrest, Durchsuchungen, Verhaftungen, Gefängnis, Vergiftung, wieder Kundgebungen, Verhaftungen und wieder Gefängnis.» Trotzdem galt Nawalnaja, die Ökonomie studiert und in der Bankbranche gearbeitet hatte, als Frau, die das Rampenlicht lieber gemieden hat.

Fragen, ob sie nicht selbst auch als politische Figur in den Vordergrund rücken wolle, wies sie stets zurück und betonte dabei ihre Rolle als Mutter und Ehefrau. Nach der Geburt ihrer beiden Kinder 2000 und 2008 gab Nawalnaja ihren Job auf und verschrieb sich der Familie. In einem seltenen Interview mit der internationalen Ausgabe des deutschen «Spiegel» vor einem Jahr erklärte Nawalnaja, um als politische Figur aufzutreten, müsse man durch und durch Politikerin sein wollen. Es mache darum keinen Sinn, ihre Rolle als einfachen Ersatz für ihren Mann zu betrachten. «Ich habe eine andere Entscheidung getroffen: Mein Mann ist Oppositionsführer, er ist im Gefängnis und ich unterstütze ihn und mache auf seine Situation aufmerksam.»

Doch nun ist ihr Mann tot und die Wut im Bauch von Nawalnaja dürfte ihren Überzeugungen Abbruch getan haben. Sie sei so lange an der Seite ihres Mannes gewesen, so die 47-Jährige. «Aber heute möchte ich an eurer Seite sein. Denn ich weiss, ihr habt genauso viel verloren wie ich.» Bereits kurz nach Nawalnys Tod entschied sie sich dafür, in München an der Sicherheitskonferenz zu bleiben. Dort hielt sie spontan eine Rede. Am Montag nahm Nawalnaja eine Einladung an ein Treffen der EU-Aussenminister an.

epa11166196 Italian Foreign Minister Antonio Tajani (R) during a meeting with Yulia Navalnaya (L), widow of the late Russian dissident Alexei Navalny, at the offices of the Italian delegation in the E ...
Nawalnaja am Montag mit dem italienischen Aussenminister.Bild: keystone

«Sie verstecken seine Leiche»

Und nun das klare Statement, in dem sie im Kern sagt: Ihr bleibt keine andere Wahl. Ihr Mann sei während Jahren gefoltert und zu Hunger gezwungen worden. «Aber nicht nur hat er nie aufgegeben, er hat uns diese ganze Zeit aufgemuntert, er hat gelacht, Witze gemacht und uns in Erinnerung gerufen, nie aufzugeben oder infrage zu stellen, wofür er kämpft und leidet.» Und nun gebe es keinen anderen Weg, als weiterzukämpfen: «Das unvorstellbare Opfer, das er gebracht hat, kann nicht vergeblich sein.» Ihr Ehemann sei unzerbrechlich gewesen und darum habe ihn Putin getötet.

Ebenso feige, wie Putin ihren Mann umgebracht hat, verstecke er nun dessen Leiche, so Nawalnaja. Angehörige und das Team Nawalnys fordern den russischen Machtapparat seit Tagen vergeblich zur Herausgabe der Leiche auf.

«Ebenso schändlich und feige verstecken sie jetzt seine Leiche, zeigen sie nicht seiner Familie, geben sie ihr nicht, sondern lügen und warten erbärmlich darauf, dass die Spuren von Putins Nowitschok verschwinden.»
Nowitschok ist bekannt dafür, vom russischen Machtapparat als Gift verwendet zu werden.

Warum Nawalny nach Russland zurückkehrte

Julia Nawalnaja war an der Seite ihres Mannes, als dieser 2021 nach einem Flug nach Moskau auf russischem Boden verhaftet wurde. Viele hätten sie gefragt, sagt die Russin jetzt im Video, warum das Ehepaar überhaupt zurückgekehrt sei – wenn doch klar war, dass Alexej wohl sofort abgeführt würde. «Warum sollte er sich auf diese Weise opfern? Schliesslich hätte er ein normales Leben mit seiner Familie führen können», fragt Nawalnaja rhetorisch.

epa08959647 A frame grab of Alexei Navalny and Yulia Navalnaya taken from a video posted on the Instagram account @navalny shows Russian opposition Leader Alexei Navalny before his flight at the Berli ...
Julia Nawalnaja und Alexej Nawalny am 17. Januar in Berlin, kurz vor dem Abflug nach Moskau.Bild: keystone

«Aber das konnte er nicht tun!», erklärt sie. «Alexej liebte Russland mehr als alles andere auf der Welt. Er liebte unser Land, er liebte euch. Er glaubte an uns, an unsere Stärke, an unsere Zukunft und daran, dass wir das Beste verdienen», sagt Nawalnaja. «Er glaubte so tief und aufrichtig an unser Land, dass er bereit war, sein Leben dafür zu geben.»

«Kämpft weiter und gebt nicht auf. Ich habe keine Angst, und ich fordere euch auf, auch vor nichts Angst zu haben.»

Viele Fragezeichen

Die Frage nach dem Einfluss auf die Opposition aus der Distanz dürfte sich auch für Nawalnaja stellen. Nicht nur ist die Opposition zersplittert und teilweise heftig zerstritten. Wie ihr Mann würde auch Nawalnaja Gefahr laufen, bei einer Einreise nach Russland sofort verhaftet zu werden. 2021 löste die russische Regierung Nawalnys Anti-Korruptions-Stiftung faktisch auf, indem sie sie zu einer extremistischen Organisation erklärte. Damit schickte sie die wichtigsten Figuren der Gruppe ins Exil. Dort wird der Kampf zwar weitergeführt, doch die russische Öffentlichkeit zu erreichen, wird ihnen immer mehr erschwert.

Im Sommer 2023 gab es Gerüchte, wonach Nawalnaja einem der vielen Prozesse gegen ihren Mann beiwohnen könnte. Doch allfällige Pläne wurden offensichtlich abgesagt. Zuvor liess der russische staatliche Sender RT verlauten, gemäss einer Quelle der Strafverfolgungsbehörden dürfte Nawalnaja wegen Unterstützung einer extremistischen Organisation verhaftet werden, sollte sie zurückkehren.

Ob aus der Ferne oder nicht: Wie genau ihre Arbeit als Oppositions-Figur aussehen wird, ist noch unklar. Darüber spricht Nawalnaja zumindest in ihrer Videobotschaft nicht. «Es ist schwierig, Nawalnajas Potenzial als Politikerin einzuschätzen, da wir sie in dieser neuen Funktion noch nicht kennengelernt haben», schreibt Tatiana Stanovaja, politische Analystin und Gründerin des unabhängigen Analyseportals R.Politik.

Vieles werde davon abhängen, ob es ihr gelingt, sich «nicht nur als Witwe eines prominenten Politikers zu präsentieren, sondern als eine beeindruckende, selbstbewusste Persönlichkeit», schreibt Analystin Stanovaja. «Ihr Erfolg wird von ihrer Fähigkeit abhängen, einen einzigartigen politischen Stil zu entwickeln, ihre Vision zu formulieren und ein professionelles Team zusammenzustellen, das potenzielle Unterstützer nicht abschreckt.» Nur die Zeit werde zeigen, wie gross ihr Einfluss auf die politische Landschaft sein wird.

Das ganze Video (mit Untertiteln auf Englisch)

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20 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Gina3
20.02.2024 04:44registriert September 2023
Eine mutige Frau- eine mutige Familie!
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Martin Baumgartner
20.02.2024 05:38registriert Juni 2022
Ich wünsche Frau Julia Nawalnaja viel Trost und Kraft. Aber ich befürchte, wenn sie wirklich eine ernstzunehmende Oppositions-Figur wird, dann werden Putins Handlanger wieder zuschlagen.
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Möwin
20.02.2024 06:19registriert März 2020
Eine mutige und starke Frau.
Sie wird ab jetzt sicherlich auf Putlers Todesliste stehen. Auch ihre Kinder. Ich hoffe, dass sie nicht nach Russland zurückkehren wird und vom Ausland aus politisch aktiv bleibt bzw. wird.
Auch da lauert Gefahr von Putins Todesschwadronen. Ich wünsche ihr und ihren Kindern viel Kraft durch diese schwere Zeit.
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