«Hallo, hier ist Julia Nawalnaja», sagt Alexej Nawalnys Witwe mit festem Blick in die Kamera. Sie meldet sich zum ersten Mal auf dem Youtube-Kanal, der zuvor von ihrem Mann bedient wurde – und von ihm stets mit dem Satz «Hallo, hier ist Nawalny!» begonnen wurde. «Ich sollte nicht hier sein», sagt Nawalnaja. Jemand anderes sollte an ihrem Platz sitzen, «aber diese Person wurde von Putin getötet».
Bereits wurde spekuliert, besonders von Nawalnys Anhängern, wer die Lücke, die der Oppositionskritiker nach seinem Tod hinterlässt, füllen sollte. Im knapp neunminütigen Video stellt Nawalnaja klar: Sie wird ihren Mann mit seinem Kampf gegen Wladimir Putin beerben. Und damit vielleicht sogar zur neuen Führungsfigur der Bewegung gegen den russischen Autokraten werden.
Mit gefalteten Händen auf einem Marmortisch und in dramatisch ausgeleuchtetem Setting sagt die 47-Jährige: «Ich werde die Arbeit von Alexej Nawalny fortsetzen und weiter für unser Land kämpfen.» Nawalnaja ruft ihre Unterstützer dazu auf, ihr dabei zu helfen. «Ich bitte euch, meine Wut zu teilen – meine Wut, meinen Zorn und meinen Hass auf diejenigen, die es gewagt haben, unsere Zukunft zu zerstören.»
Nawalnajas Video kommt einem Startschuss gleich, sorgfältig inszeniert, mit bewegter Musik unterlegt, und mit klarer Idee dahinter. Das Video könne als eine Art «Einführung einer neuen Anführerin der zersplitterten pro-demokratischen Bewegung gegen Putin» gesehen werden, beschreibt es zum Beispiel die «New York Times».
Dabei schien das bis vor Kurzem noch eher unwahrscheinlich. Zwar unterstützte Julia Nawalnaja ihren Mann von Beginn an, wo sie konnte. «Ich war über all die Jahre immer an Alexejs Seite», so die Russin in ihrer Videobotschaft, «Wahlen, Kundgebungen, Hausarrest, Durchsuchungen, Verhaftungen, Gefängnis, Vergiftung, wieder Kundgebungen, Verhaftungen und wieder Gefängnis.» Trotzdem galt Nawalnaja, die Ökonomie studiert und in der Bankbranche gearbeitet hatte, als Frau, die das Rampenlicht lieber gemieden hat.
Fragen, ob sie nicht selbst auch als politische Figur in den Vordergrund rücken wolle, wies sie stets zurück und betonte dabei ihre Rolle als Mutter und Ehefrau. Nach der Geburt ihrer beiden Kinder 2000 und 2008 gab Nawalnaja ihren Job auf und verschrieb sich der Familie. In einem seltenen Interview mit der internationalen Ausgabe des deutschen «Spiegel» vor einem Jahr erklärte Nawalnaja, um als politische Figur aufzutreten, müsse man durch und durch Politikerin sein wollen. Es mache darum keinen Sinn, ihre Rolle als einfachen Ersatz für ihren Mann zu betrachten. «Ich habe eine andere Entscheidung getroffen: Mein Mann ist Oppositionsführer, er ist im Gefängnis und ich unterstütze ihn und mache auf seine Situation aufmerksam.»
Doch nun ist ihr Mann tot und die Wut im Bauch von Nawalnaja dürfte ihren Überzeugungen Abbruch getan haben. Sie sei so lange an der Seite ihres Mannes gewesen, so die 47-Jährige. «Aber heute möchte ich an eurer Seite sein. Denn ich weiss, ihr habt genauso viel verloren wie ich.» Bereits kurz nach Nawalnys Tod entschied sie sich dafür, in München an der Sicherheitskonferenz zu bleiben. Dort hielt sie spontan eine Rede. Am Montag nahm Nawalnaja eine Einladung an ein Treffen der EU-Aussenminister an.
Und nun das klare Statement, in dem sie im Kern sagt: Ihr bleibt keine andere Wahl. Ihr Mann sei während Jahren gefoltert und zu Hunger gezwungen worden. «Aber nicht nur hat er nie aufgegeben, er hat uns diese ganze Zeit aufgemuntert, er hat gelacht, Witze gemacht und uns in Erinnerung gerufen, nie aufzugeben oder infrage zu stellen, wofür er kämpft und leidet.» Und nun gebe es keinen anderen Weg, als weiterzukämpfen: «Das unvorstellbare Opfer, das er gebracht hat, kann nicht vergeblich sein.» Ihr Ehemann sei unzerbrechlich gewesen und darum habe ihn Putin getötet.
Ebenso feige, wie Putin ihren Mann umgebracht hat, verstecke er nun dessen Leiche, so Nawalnaja. Angehörige und das Team Nawalnys fordern den russischen Machtapparat seit Tagen vergeblich zur Herausgabe der Leiche auf.
Julia Nawalnaja war an der Seite ihres Mannes, als dieser 2021 nach einem Flug nach Moskau auf russischem Boden verhaftet wurde. Viele hätten sie gefragt, sagt die Russin jetzt im Video, warum das Ehepaar überhaupt zurückgekehrt sei – wenn doch klar war, dass Alexej wohl sofort abgeführt würde. «Warum sollte er sich auf diese Weise opfern? Schliesslich hätte er ein normales Leben mit seiner Familie führen können», fragt Nawalnaja rhetorisch.
«Aber das konnte er nicht tun!», erklärt sie. «Alexej liebte Russland mehr als alles andere auf der Welt. Er liebte unser Land, er liebte euch. Er glaubte an uns, an unsere Stärke, an unsere Zukunft und daran, dass wir das Beste verdienen», sagt Nawalnaja. «Er glaubte so tief und aufrichtig an unser Land, dass er bereit war, sein Leben dafür zu geben.»
Die Frage nach dem Einfluss auf die Opposition aus der Distanz dürfte sich auch für Nawalnaja stellen. Nicht nur ist die Opposition zersplittert und teilweise heftig zerstritten. Wie ihr Mann würde auch Nawalnaja Gefahr laufen, bei einer Einreise nach Russland sofort verhaftet zu werden. 2021 löste die russische Regierung Nawalnys Anti-Korruptions-Stiftung faktisch auf, indem sie sie zu einer extremistischen Organisation erklärte. Damit schickte sie die wichtigsten Figuren der Gruppe ins Exil. Dort wird der Kampf zwar weitergeführt, doch die russische Öffentlichkeit zu erreichen, wird ihnen immer mehr erschwert.
Im Sommer 2023 gab es Gerüchte, wonach Nawalnaja einem der vielen Prozesse gegen ihren Mann beiwohnen könnte. Doch allfällige Pläne wurden offensichtlich abgesagt. Zuvor liess der russische staatliche Sender RT verlauten, gemäss einer Quelle der Strafverfolgungsbehörden dürfte Nawalnaja wegen Unterstützung einer extremistischen Organisation verhaftet werden, sollte sie zurückkehren.
Ob aus der Ferne oder nicht: Wie genau ihre Arbeit als Oppositions-Figur aussehen wird, ist noch unklar. Darüber spricht Nawalnaja zumindest in ihrer Videobotschaft nicht. «Es ist schwierig, Nawalnajas Potenzial als Politikerin einzuschätzen, da wir sie in dieser neuen Funktion noch nicht kennengelernt haben», schreibt Tatiana Stanovaja, politische Analystin und Gründerin des unabhängigen Analyseportals R.Politik.
Yulia #Navalnaya has declared her intention to pursue Alexei's cause, signaling a clear move towards an independent political role. This development raises numerous questions regarding her future prospects and the implications of her decision. It's challenging to assess…
— R.Politik (@R__Politik) February 19, 2024
Vieles werde davon abhängen, ob es ihr gelingt, sich «nicht nur als Witwe eines prominenten Politikers zu präsentieren, sondern als eine beeindruckende, selbstbewusste Persönlichkeit», schreibt Analystin Stanovaja. «Ihr Erfolg wird von ihrer Fähigkeit abhängen, einen einzigartigen politischen Stil zu entwickeln, ihre Vision zu formulieren und ein professionelles Team zusammenzustellen, das potenzielle Unterstützer nicht abschreckt.» Nur die Zeit werde zeigen, wie gross ihr Einfluss auf die politische Landschaft sein wird.
Sie wird ab jetzt sicherlich auf Putlers Todesliste stehen. Auch ihre Kinder. Ich hoffe, dass sie nicht nach Russland zurückkehren wird und vom Ausland aus politisch aktiv bleibt bzw. wird.
Auch da lauert Gefahr von Putins Todesschwadronen. Ich wünsche ihr und ihren Kindern viel Kraft durch diese schwere Zeit.