Im Juni 2016 stimmten die Briten mit knapp 52 Prozent Ja für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union. EU-Gegner auf dem Kontinent jubilierten. In der Schweiz schürte der Brexit Hoffnungen auf einen Deal, der zum Vorbild für die eigenen Beziehungen mit der EU werden könnte – vielleicht ohne die ungeliebte Personenfreizügigkeit.
Am 29. März 2019 läuft die zweijährige Austrittsfrist ab. An jenem Tag endet die EU-Mitgliedschaft Grossbritanniens. Die Euphorie aber ist längst verflogen. Etwas mehr als ein halbes Jahr vor dieser Deadline rückt ein geregelter Brexit in immer weitere Ferne. «Wir steuern auf einen Austritt ohne Abkommen zu», sagte der britische Aussenminister Jeremy Hunt letzte Woche.
Eigentlich haben sich die EU und die Briten grundsätzlich auf eine Übergangsfrist bis Ende 2020 geeinigt. Doch damit diese in Kraft treten kann, müssen die Modalitäten der «Scheidung» geregelt sein. Und danach sieht es nicht aus. Die Fronten zwischen der EU und Grossbritannien sind verhärtet. Ein Worst-Case-Szenario in Form eines No-Deal-Brexit wird wahrscheinlicher.
Dabei hatte die konservative Premierministerin Theresa May Mitte Juli endlich ihren Austrittsplan vorgelegt. Zuvor hatte die Regierung zwei Jahre mit dem Streit zwischen den Befürwortern eines «harten» und eines «weichen» Brexit vergeudet. Die von May unmotiviert angesetzte Unterhauswahl im Juni 2017 half ebenfalls nicht. Die Konservativen verloren dabei ihre Parlamentsmehrheit.
Mays «Weissbuch» sieht eine Freihandelszone mit der EU für Güter vor, inklusive ein spezielles Zollabkommen, um Kontrollen an der Grenze zur Republik Irland zu vermeiden. Sie sind einer der grössten Streitpunkte in den Verhandlungen mit der EU. Die (Finanz-)Dienstleistungen sollen ausgenommen werden, damit die Briten Spielraum für eigene Freihandelsverhandlungen haben.
Die Begeisterung über das Weissbuch hielt sich in Grenzen. Den Hardlinern gehen Mays Ideen zu weit. Mit Aussenminister Boris Johnson und Brexit-Minister David Davis traten zwei ihrer Wortführer aus der Regierung zurück. Die City of London hingegen bezeichnete es als «Schlag für den Finanzsektor». Und für die EU-Kommission sind Mays Zollpläne schlicht untauglich.
Deshalb wächst die Wahrscheinlichkeit eines Hauruck-Austritts. Die möglichen Konsequenzen beschreibt Spiegel Online. Sie reichen von kilometerlangen Staus an der Grenze über Versorgungsengpässe bei Lebensmitteln bis zur Möglichkeit, dass britische Jets nicht mehr auf europäischen Flughäfen landen können. Und die Industrie wäre von den Lieferketten auf dem Kontinent abgeschnitten.
Der Flugzeugbauer Airbus droht deshalb mit dem Rückzug aus Grossbritannien, wenn der reibungslose Austausch mit den Standorten auf dem Kontinent nicht mehr möglich ist, den die Mitgliedschaft im Binnenmarkt ermöglicht. Die Autoindustrie warnt ebenfalls vor solchen Szenarien. Die Banken in London planen, ihre Aktivitäten zumindest teilweise in die EU zu verlagern.
Der Bevölkerung scheinen die Konsequenzen eines No-Deal-Brexit langsam zu dämmern. Laut einer Umfrage des Instituts YouGov wollen 50 Prozent der Befragten in diesem Fall eine zweite Abstimmung. Nur 25 Prozent finden, das Parlament solle entscheiden. Und selbst bei einem geregelten Austritt wollen 45 Prozent über das Ergebnis abstimmen, 34 Prozent sind dagegen.
Laut der von der proeuropäischen Kampagne Open Britain bestellten Umfrage wären 53 Prozent für einen Verbleib in der EU und 47 Prozent für den Austritt (die Unentschlossenen wurden nicht mitgezählt). Eine andere Befragung des Senders Sky News ergab, dass 48 Prozent in der EU bleiben und 27 Prozent einen «harten» Brexit wollen. Nur 13 Prozent unterstützen Mays Plan.
Die Umfragen zeigen, dass das britische Volk in der EU-Frage nach wie vor tief gespalten ist, die Brexit-Gegner aber leicht an Boden gewonnen haben. Das muss nicht viel bedeuten. So richtig bewusst scheinen die Folgen eines No-Deal-Brexit vielen immer noch nicht zu sein. Laut einer weiteren Umfrage haben weniger als ein Drittel der Manager Notfallpläne in der Schublade.
Ob es zum ganz grossen Knall kommt, scheint fraglich. Dafür haben beide Seiten zu viel zu verlieren. Grossbritannien ist ein anderes Kaliber als die Schweiz Aber die Zeit ist knapp. Vielleicht kommt es am Ende zu jenem Szenario, das Ex-Aussenminister Boris Johnson verächtlich als «Toilettenpapier-Brexit» bezeichnet hat: Einen weichen und unendlich langen Austritt.
Ein solcher «Pseudo-Brexit» aber wäre kein Vorbild für die Schweiz, und ein No-Deal-Austritt erst recht nicht. Die beiden Länder lassen sich ohnehin kaum vergleichen: Die Briten wollen die Scheidung, die Schweiz hingegen sucht eine Anbindung an die EU. Da lassen sich Gemeinsamkeiten schwer finden.