Was bewaffnete Kriminalität angeht, sind sich die Einwohnerinnen und Einwohner von Serbiens Hauptstadt Belgrad einiges gewohnt: Regelmässig machten in den vergangenen Jahren blutige Abrechnungen unter organisierten Clans Schlagzeilen. Der Amoklauf eines Minderjährigen vom Mittwoch ist aber eine völlig neue Dimension, welche die Bevölkerung in eine tiefe Sinnkrise stürzt.
Dass ein 13-jähriger Siebtklässler an seiner Schule mitten in der Stadt sieben Mädchen, einen Mitschüler und einen Aufseher erschiesst, dazu sieben weitere Personen teils schwer verletzt, sorgt am Tag danach noch immer für Entsetzen und Fassungslosigkeit.
Am Donnerstagmorgen versammelten sich Hunderte von Trauernden vor der Vladislav-Ribnikar-Grundschule, um Blumen niederzulegen und Andacht zu halten. Auch in anderen Städten des Landes trauerten Tausende auf öffentlichen Plätzen und zündeten Kerzen an.
People have gathered in Belgrade to light candles for the kids that lost their lives today in the fatal shooting. The whole Serbia is united in prayers. This was the biggest tragedy the country has faced in years. pic.twitter.com/tatXkhvqM8
— Sergej Dojcinovic (@sergdojc) May 3, 2023
«Das Schreckliche, das sich in Belgrad ereignet hat, kann eigentlich nur der Skript für einen Horrorfilm sein. Aber nein, es ist bittere Realität, die uns heute wie eine schmerzhafte Ohrfeige trifft», schreibt die Mutter und Einwohnerin Jovana Neric in einem offenen Brief. Um gleich die Frage zu stellen, die nach dem Amoklauf viele in Serbien umtreibt: «Wo haben wir als Gesellschaft versagt?»
Je nach politischer Ausrichtung fällt die Antwort höchst unterschiedlich aus. Der serbische Bildungsminister Branko Ruzic verkündete an einer Medienkonferenz eine dreitägige Staatstrauer und machte für die Tat den «offensichtlichen Einfluss des Internets, von Videospielen und sogenannten westlichen Werten» geltend. Für dessen Eindämmung brauche es nun eine «systematische Lösung».
Die serbischen Medien kennen seit 24 Stunden kein anderes Thema mehr und warten mit immer neuen Details auf. So schreibt der regierungsnahe Sender Pink TV: «Während Kosta K. um sich schoss, sass seine 10-jährige Schwester im Klassenzimmer nebenan.» Der junge Täter, der eine Liste der zu tötenden Kinder mitführte, rief nach den Schüssen offenbar selber die Polizei. In einer ersten Einvernahme durch die Polizei habe er angegeben, er sei ein «Psychopath» und habe sich «abreagieren» müssen, sagte der Belgrader Polizeidirektor Veselin Milic im Staatsfernsehen RTS.
In der Berichterstattung steht insbesondere die Rolle des Vaters im Vordergrund. Wie konnte es sein, dass der renommierte Arzt den Minderjährigen regelmässig auf den Schiessstand führte, fragte sich auch Staatspräsident Aleksandar Vucic in einer fast einstündigen Stellungnahme. Die Polizei nahm den Vater fest, weil sie ihm vorwirft, die Waffen nicht vorschriftsmässig verwahrt zu haben.
Der zeitweise mit den Tränen ringende Staatspräsident schlug nach der Tat «an einer der besten Schulen des Landes» ein Bündel an Massnahmen vor, insbesondere die Senkung der Strafmündigkeit von 14 auf 12 Jahre - denn der junge Täter wusste laut Vucic um seine Immunität vor der Strafverfolgung und habe beim polizeilichen Verhör keinerlei Reue gezeigt: «Er, der in seiner Klasse ausgestossen war, fühlt sich jetzt als Held.»
Vucic brachte aber auch eine Zensur von problematischen Videospiel- und Internet-Inhalten sowie routinemässige Drogentests an Schulen ins Spiel, über die man jetzt beraten müsse. Das dürfte bei all jenen auf Zustimmung stossen, die ebenfalls jene westlichen Werte verdammen, die das zuvor angeblich nur in den USA bekannte Phänomen der Schulschiessereien nach Serbien importiert hätten.
Andere hingegen sehen das Problem tiefer verwurzelt: «Das kommt davon, wenn man in der Gesellschaft ständig Kriminelle und Kriegsverbrecher verherrlicht und bei jeder Gelegenheit ‹Killt die Zigeuner, killt die Muslime, killt die Kroaten!› ruft», kritisierte ein Nutzer in den sozialen Netzwerken.
In Anspielung auf das Massaker von Srebrenica im Bosnienkrieg pflichtete ein anderer bei: «Das Problem liegt darin, dass offensichtlich eine Kultur besteht, in Serbien Kriegsverbrechen wie Nationalfeiertage zu begehen.» Dann dürfe man sich auch nicht wundern, wenn sich diese Haltung in allen Gesellschaftsbereichen niederschlage.
Eine Verbindung beider Thesen konstruierte der serbisch-kanadische Filmregisseur Boris Malagurski: In einem viel beachteten Eintrag auf Twitter geisselte der als Nationalist verschriene Filmschaffende die «jahrzehntelange staatliche und mediale Verherrlichung von Kriminalität und Mafiatum», aber im gleichen Atemzug auch die Verbreitung «von Schund, des Reality-TV-Monstrums und falscher Werte», welche den Niedergang der serbischen Gesellschaft herbeigeführt hätten.
Innerhalb von Serbien dürften solche Ansichten jedoch bloss von einer Minderheit vertreten werden und kaum zu genereller Besinnung führen. Daran ändert auch nichts, dass ausgerechnet am Tag des Belgrader Schulmassakers das «New York Times Magazine» eine Aufsehen erregende Hintergrundgeschichte über die angeblichen Verstrickungen von Staatspräsident Vucic und der serbischen Kokain-Mafia publizierte.
A remarkable piece on the mafia government in charge of Serbia. It really is like a mafia style crime family. Really, really bad. All out in teh open through this piece in the @NYTimes Wow. https://t.co/YNHjlEoph2
— Tanya L. Domi 🇺🇦 (@tanyadomi) May 3, 2023
Der preisgekrönte US-Journalist Robert F. Worth zeichnet darin minutiös Vucics Werdegang aus seinen Anfängen in der Belgrader Ultraszene über den Ministerposten in Slobodan Milosevics Regierung bis hin zum Staatspräsidium auf. Dieser sei kontinuierlich von Kontakten und Verbindungen zur serbischen Unterwelt und zu Belgrader Hooligan-Gruppierungen geprägt gewesen.
Im Artikel zitiert Worth den früheren Staatspräsidenten und Vucic-Rivalen Boris Tadic. Dieser wirft seinem Nachfolger vor, er habe «Kriminellen an die Macht» verholfen, in der vergeblichen Hoffnung, er könne sie kontrollieren. Das organisierte Verbrechen sei im heutigen Serbien jedoch derart allmächtig geworden, dass niemand mehr wisse, «wer dieses Land wirklich regiert». (aargauerzeitung.ch)
War ja leider nicht anders zu erwarten.
Hoffe, Serbien möge so nie der EU beitreten dürfen.
Ich wünsche keinem Kind von seiner Klasse gemobbt und ausgestossen zu werden.