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Ukraine

Zwei Ukrainerinnen erzählen von den Tagen im Krieg

A woman runs as she flees with her family across a destroyed bridge in the outskirts of Kyiv, Ukraine, Wednesday, March 2. 2022. Russia renewed its assault Wednesday on Ukraine���s second-largest city ...
Eine Frau flieht über eine zerstörte Brücke in einem Aussenbezirk der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Bild: keystone

Zwei Frauen erzählen aus dem Krieg: «Meine Mutter strickt Tarnnetze»

Als die ersten Raketen über die Ukraine fliegen, entscheidet sich Daria zu fliehen. Olha hingegen bleibt. Zwei Frauen erzählen von den Tagen im Krieg.
06.03.2022, 05:4407.03.2022, 05:59
Vanessa Hann
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Dennis Frasch
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Rund 900'000 Menschen sind seit Kriegsbeginn aus der Ukraine geflüchtet. Unter ihnen ist die 20-jährige Daria Bartowa und ihre Mutter.

Andere wiederum sind im Land geblieben. Weil sie die Ukraine nicht verlassen können oder wollen. Zu ihnen gehören die 24-jährige Olha Petrenko* und ihre Eltern. Die beiden Frauen berichten aus den ersten Tagen im Krieg.

Daria Bartowa
«Packt eure Sachen, Kiew wird bombardiert!»

«Der 23. Februar war ein Tag wie jeder andere auch. Nichts Aussergewöhnliches ist passiert. Nichts hat darauf hingedeutet, dass sich am nächsten Morgen alles für immer ändern wird.

Ich bin aus Riwne, eine Stadt im Nordwesten der Ukraine. Am Abend vor der Invasion bin ich zu meinem Freund nach Hause. Wir stritten uns an diesem Abend. Rückblickend über belanglose Dinge.

karte: watson

Ich schlief schlecht in dieser Nacht. Wegen der Auseinandersetzung mit meinem Freund und wegen lautem Fluglärm. Mein Freund wohnt in der Nähe des Flughafens. Ich dachte mir nicht viel dabei.

Am nächsten Tag erfuhr ich, dass das keine Flieger waren. Es waren Raketen. Um fünf Uhr morgens rief meine Mutter an. ‹Packt eure Sachen, Kiew wird bombardiert›, sagte sie. Ihre Worte werden noch lange in meinem Kopf nachhallen.

In diesem Moment brach ich in Panik aus. Ich konnte nicht mehr aufhören zu weinen. Nicht weil ich Angst um meine Familie oder mich gehabt hätte, sondern wegen der Menschen in Kiew.

epaselect epa09799521 Destroyed cars are seen next to residential buildings damaged by heavy shelling in Irpin city, Kyiv (Kiev) province, Ukraine, 03 March 2022. Russian troops entered Ukraine on 24  ...
Von Bomben zerstörte Wohnhäuser und Autos in Irpin, einem Vorort von Kiew. Bild: keystone

Als mein Freund und ich bei meinen Eltern um sechs Uhr ankamen, herrschte pures Chaos. Meine Mutter und mein Vater versuchten, alle unsere Sachen zu packen. Im Wohnzimmer lief der Fernseher. Die nächsten Stunden verbrachten wir damit, Lebensmittel einzukaufen und unser Geld in Euro zu wechseln.

Gegen Mittag erfuhren wir, dass Männer zwischen 18 und 60 Jahren das Land nicht verlassen dürfen. Wir mussten uns entscheiden: Bleiben wir alle zusammen in der Ukraine oder fliehen meine Mutter und ich alleine?

Am nächsten Morgen stiegen meine Mutter, ein Geschäftspartner meiner Eltern und ich ins Auto und fuhren los. Der Geschäftspartner ist bereits über 60 Jahre alt und war der einzige Mann in unserem näheren Bekanntenkreis, der mitkommen konnte.

Die Strassen in Richtung der polnischen Grenze waren gefüllt mit Autos und Bussen. Nur alle 30 Minuten kamen wir einen Meter vorwärts.

Um Mitternacht erreichten wir die polnische Grenze. Die Grenzwache prüfte nicht wirklich, was wir dabei hatten. Sie kontrollierten unsere Pässe und das Alter von unserem Begleiter und winkten uns durch.

Jetzt sind wir in Rzeszów, einer Stadt im Südosten Polens. Etwa zwei Autostunden von der ukrainischen Grenze entfernt. Wir konnten für fünf Nächte eine Wohnung mieten. Eine Unterkunft zu finden war wirklich schwer.

daria
Die 20-jährige Daria Bartowa ist mit ihrer Mutter aus der Ukraine nach Polen geflohen. bild: zvg

Die Stadt ist voll mit Ukrainerinnen. Wie es von hier aus weitergeht, weiss ich nicht. Wir haben keine Verwandten oder Freunde in Europa, die uns aufnehmen könnten.

Die Menschen in Rzeszów sind sehr nett. Viele wollen helfen, spenden Geld oder geben Tipps. Das macht Mut.

Wir prüfen jetzt unsere Möglichkeiten. Vielleicht beantragen wir ein Flüchtlingsvisum in Polen und holen uns eine Arbeitsbewilligung. Oder wir versuchen, nach Spanien durchzukommen.

Alles ist momentan chaotisch und unübersichtlich. Niemand kann uns Antworten liefern. Am liebsten würde ich wieder nach Hause, doch ich weiss nicht, ob ich das je wieder kann. Selbst wenn der Krieg endet – die Ukraine wird wirtschaftlich am Boden sein.»

Polish local hospital employees and volunteers make hundreds of beds to prepare for an influx of Ukrainian refugees in Rzeszow, Poland, Saturday, Feb. 26, 2022. (AP Photo/Visar Kryeziu)
Spitalmitarbeitende und Freiwillige in Rzeszów bereiten Hunderte von Betten vor für geflüchtete Menschen aus der Ukraine. Bild: keystone

Olha Petrenko*
«Meine Mutter strickt Tarnnetze, mein Vater holt Hilfspakete»

«Die Tage sind bizarr. Im Moment befinde ich mich in Luzk, einer Kleinstadt im Nordwesten der Ukraine. Wir werden ständig vor Flugzeug- und Raketenangriffen gewarnt. Dann müssen wir uns in Schutzräumen verstecken. Hast du jemals Luftangriffssirenen gehört? Das ist der schlimmste Ton überhaupt.

Luzk ist aber nichts im Vergleich zu anderen Regionen. Ich habe Freunde und Verwandte, die seit einer Woche in Schutzräumen leben, in anderen Städten sind. Jeden Tag versuche ich ihnen eine SMS zu schreiben oder sie anzurufen, um zu hören, dass es ihnen gut geht.

Am vorletzten Donnerstagmorgen hat mich das Geräusch von explodierenden Bomben in der Ferne geweckt. Eigentlich lebe ich in Kiew. Aber ich war gerade bei meinen Eltern in Luzk zu Besuch. Rückblickend war es reines Glück, dass ich an diesem Tag nicht bei mir zu Hause, sondern in Sicherheit war.

Zusammen mit meinen Eltern überlegte ich, was wir tun wollen. Am Freitag beschlossen wir, in der Ukraine zu bleiben. Hier in Luzk ist es einigermassen sicher.

Viele Menschen in der Region brauchen Hilfe. Ausserdem könnten mein Vater und mein Bruder ohnehin nicht ausreisen. Sie sind zwischen 18 und 60 Jahre alt. Im Moment sieht es zwar nicht danach aus, als würden sie ins Militär eingezogen werden, aber das kann sich jederzeit ändern.

Jeden Tag fallen hier andere Aufgaben an. Meine Mutter strickt Tarnnetze, mein Vater holt Hilfspakete und liefert sie in der Region aus. Mal organisieren wir Transporte und Unterkünfte oder kochen Essen für unsere selbstorganisierte Territorialverteidigung und die Polizei, die rund um die Uhr im Einsatz ist. Inzwischen haben wir genug Molotow-Cocktails abgefüllt und beliefern unsere Nachbardörfer und -städte damit.

Wie sich ukrainische Zivilisten auf ihren Feind vorbereiten

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Kürzlich wurden Frauen aus der Geburtenabteilung des Kiewer Krankenhauses in unsere Stadt evakuiert. Ich habe den ganzen Tag damit verbracht, Babynahrung aufzutreiben.

Und ich habe vor, in den Hundeheimen der Region anzurufen und zu fragen, ob sie Futter brauchen. Viele Spenden gehen jetzt an die Armee oder sind für humanitäre Zwecke vorgesehen. Aber wir haben auch Tiere, die mindestens Futter brauchen.

Ich habe absolut keinen Plan, wie es weitergeht. Wir bereiten uns auf einen langen Krieg vor und hoffen, dass unsere Verwandten und unsere Familie überleben werden – emotional und physisch.»

*Name der Redaktion bekannt.

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4 Kommentare
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Grain2
06.03.2022 08:33registriert August 2018
Das geht einfach unter die Haut.
Jeden Tag.
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sowhat
06.03.2022 08:13registriert Dezember 2014
Danke für diesen Bericht.
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