Wer regelmässig Medien konsumiert, für den gab es im Sommer 2023 an einer Geschichte kein Vorbeikommen: das Schicksal des Tauchboots mit dem Namen Titan. Seine fünf Besatzer machten sich Mitte Juni auf den Weg in die Tiefe des Atlantiks, in Richtung des berühmten Titanic-Wracks – und kehrten nie wieder zurück.
Was genau passiert ist und wer die Schuld an dem Unglück trägt, das will derzeit ein Ausschuss der US-Küstenwache herausfinden. Dieser lässt Experten und Zeuginnen, beispielsweise ehemalige Angestellte, zu Wort kommen. Die Aussagen in der ersten Woche der Anhörung haben bislang ein vernichtendes Bild des in Washington ansässigen Unternehmens gezeichnet.
Was wirklich hinter der ganzen Geschichte stehe, sei «sowohl Hybris als auch Gier» – so sagte es Peter Girguis, ein Harvard-Ozeanograf, gegenüber CNN. Hybris bedeutet so viel wie Überheblichkeit, Selbstüberschätzung oder Hochmut. Girguis erklärt:
Blick zurück auf den 18. Juni 2023. Fünf Menschen besteigen auf hoher See eine kleine Kapsel, das Tauchboot Titan: Stockton Rush, der Gründer und Geschäftsführer der Betreiberfirma OceanGate, der pakistanisch-britische Geschäftsmann Shahzada Dawood und sein 19-jähriger Sohn Suleman Dawood, der britische Geschäftsmann Hamish Harding und der französische Taucher und Titanic-Experte Paul-Henri Nargeolet.
Es war nicht der erste Tauchgang der Titan zum berühmten Schiffswrack, bereits seit 2021 gab es mehrere Missionen. Doch es war die erste Mission im laufenden Jahr, bei der ein Tauchgang in die Nähe der Titanic kam – alle vorherigen Versuche waren an schlechten Wetterbedingungen gescheitert.
Die Passagiere waren zuvor mehrere Tage an Bord eines Begleitschiffes, der Polar Prince, in die Nähe des Wracks gefahren. Das ganze Abenteuer kostete sie stolze 250'000 US-Dollar – pro Person. Hamish Harding, einer der fünf Passagiere, hatte kurz nach der Abreise ab der kanadischen Insel Neufundland einen Social-Media-Post verfasst:
Am 18. Juni, kurz nach 9 Uhr Ortszeit, begann die Tauchoperation an den Grund des Atlantiks; fast vier Kilometer lagen vor ihnen, die Titanic liegt auf ungefähr 3810 Metern unter dem Meeresspiegel. Im Inneren des Tauchbootes wurde die Luke verriegelt, sie konnte nur von aussen wieder geöffnet werden. Der Abstieg von der Oberfläche zum Wrack der Titanic dauerte in der Regel zwei Stunden, wobei der gesamte Tauchgang etwa acht Stunden in Anspruch nahm. Die Titan wurde mit einem Logitech-Gamepad gesteuert, über GPS verfügte sie nicht. Das Mutterschiff, das die Position des Tauchbootes im Verhältnis zu seinem Ziel überwachte, schickte stattdessen Textnachrichten mit Entfernungs- und Richtungsangaben.
Eine Stunde und 45 Minuten nach ihrem Abtauchen setzte die Titan das letzte Signal ab, danach brach die Verbindung zum Tauchboot gemäss der Crew an Board der Polar Prince ab. Um 19.10 Uhr, zwei Stunden, nachdem das Tauchboot wieder hätte auftauchen sollen, wurde die US-Küstenwache über sein Verschwinden informiert. Daraufhin liess die US-Marine ihre Signale checken – und entdeckte anhand eines entsprechenden Erkennungssystems, das zur Ortung militärischer U-Boote entwickelt wurde, ein akustisches Signal, das auf eine Implosion hindeutete.
Was in den nächsten Tagen folgte, war eine beispiellose Suchaktion nach der Titan und ihren fünf Insassen. Die US-Küstenwache, die US-Marine und die kanadische Küstenwache organisierten die Suche. Flugzeuge der Royal Canadian Air Force und der United States Air National Guard, ein Schiff der Royal Canadian Navy sowie mehrere Handels- und Forschungsschiffe und ferngesteuerte Unterwasserfahrzeuge (ROVs) halfen ebenfalls bei der Suche.
In der Nähe der Titanic, etwa 684 Kilometer südlich der kanadischen Insel Neufundland, sind die Bedingungen äusserst schwierig. Es herrscht pechschwarze Dunkelheit, und der Wasserdruck ist gross.
Trotz der bereits damals als wahrscheinlich geltenden Möglichkeit, dass alle Insassen bereits tot waren, liess ein Sprecher der US-Küstenwache auf einer Pressekonferenz verkünden: «Dies ist zu 100 Prozent eine Such- und Rettungsmission – und keine Wrackbergungsmission.» Ebenfalls für eine gewisse Hoffnung sorgten zunächst von den Suchtrupps wahrgenommene Klopfgeräusche, die alle 30 Minuten auftraten – aber von niemandem zuverlässig zugeordnet werden konnten.
Während Medien rund um die Uhr berichteten, wurde zudem klar: Selbst wenn die Insassen noch leben würden, viel Zeit hätten sie nicht mehr. Gemäss Schätzungen der US-Küstenwache war der Sauerstoff vermutlich am frühen Morgen des 22. Juni aufgebraucht. Nach Angaben des Betreibers OceanGate Expeditions hatte die 6,7 Meter kleine Titan ausreichend Sauerstoff, um fünf Menschen für 96 Stunden zu versorgen.
Am selben Tag, dem 22. Juni, kurz nach dem Mittag, gab die US-Küstenwache bekannt, dass in der Nähe der Titanic ein Trümmerfeld gefunden wurde. Auf einer Pressekonferenz erklärte die Küstenwache kurz darauf, dass es sich bei den Trümmern auf dem Meeresboden, etwa 500 Meter nordöstlich des Bugs der Titanic entfernt, um die Titan handelte. Der Verlust des Tauchboots sei auf eine Implosion der Druckkammer zurückzuführen.
Wussten die fünf Titan-Taucher, dass sie in Lebensgefahr schwebten und wahrscheinlich sterben würden, bevor ihr Tauchboot vor 15 Monaten implodierte? Unter anderem dieser Frage gehen Experten derzeit im Rahmen der Anhörung, die noch bis Ende Woche dauert, im US-Bundesstaat South Carolina nach.
Experten – darunter übrigens «Titanic»-Regisseur James Cameron – hatten diese Frage zuvor meistens bejaht. Unter anderem auf diese Annahme stützte sich auch eine Anklage der Familie des französischen Tauchers Nargeolet, der ebenfalls an Bord war.
Während der gesamten Reise sollte das Tauchboot dem Mutterschiff alle 15 Minuten eine kurze Textnachricht senden. In einer Tiefe von 2274 Metern meldete es «alles in Ordnung hier». Während des Abstiegs gab es keine Meldungen, die auf Probleme hindeuteten. Eine letzte Textnachricht – das wurde nun im Zuge der Anhörung bekannt – wurde von der Titan um 10:47 Uhr in einer Tiefe von 3346 Metern gesendet. Sie lautete: «Dropped two wts». Was so viel bedeutet wie «zwei Gewichte abgelassen».
Gemäss der Anklage der Familie Nargeolet bedeutete diese Nachricht, dass sich die Insassen eines Problems bewusst waren. Die «heruntergefallenen Gewichte» bedeuteten demnach, dass die Mannschaft den Tauchgang abgebrochen hatte oder zumindest versuchte, ihn abzubrechen. Die fünf Besatzungsmitglieder, so heisst es weiter, «wussten sehr wohl, dass sie sterben würden» und hätten «Angst und seelische Qualen erlebt».
Doch diese Version wird nun angezweifelt. In einer Zeugenaussage vergangene Woche sagte Tym Catterson, ein Auftragnehmer von OceanGate, der beim Start des Tauchbootes kurz vor dessen Implosion half, unter Eid aus, dass er sich sicher war, dass die beiden Gewichte – insgesamt etwas über 30 Kilogramm – abgeworfen worden waren, um einen neutralen Auftrieb zu erreichen. Dies sollte das Tauchboot stabilisieren und ihm dabei helfen, seine Bewegungen besser zu kontrollieren, während es sich dem Meeresboden näherte – und nicht, um an die Oberfläche zurückzukehren.
«Es ist nicht genug Gewicht, um wieder nach oben zu kommen», sagte Catterson. Das Boot sei damit nach wie vor ziemlich schwer, denn bei einem typischen Tauchgang würden zwischen 100 und 150 Kilogramm Gewichte mitgeführt.
Die Herkunft der Klopfgeräusche konnte derweil nie geklärt werden. Gemäss Experten sei es aber sehr gut möglich, dass sie vom Titanic-Wrack selbst – und der Bewegung des Meeres – stammten.
Die Insassen des Titan-Tauchboots haben Experten zufolge von der Implosion ihres Gefährts nichts mehr mitbekommen. Der Druck auf das Tauchboot sei in so grosser Tiefe massiv gewesen – die Implosion sei im Bruchteil einer Millisekunde passiert, liess sich nach dem Unglück eine Professorin für Katastrophenmedizin zitieren.
Das menschliche Gehirn könne die Lage so schnell gar nicht erfassen. «Das ganze Ding ist kollabiert, bevor die Menschen darin überhaupt bemerken konnten, dass es ein Problem gab», betonte die Professorin.
Bei der Bergung des Wracks, eine Woche nach Untergang der Titan, wurden gemäss US-Küstenwache neben den Trümmerteilen «menschliche Überreste» gefunden, die mit der Theorie der Implosion übereinstimmten.
Einer der wichtigsten Zeugen in der laufenden Anhörung ist David Lochridge. Der ehemalige Direktor für Marineeinsätze (Englisch: marine operations) bei OceanGate hatte hinsichtlich der Sicherheit des Tauchbootes mehrfach Bedenken geäussert. Die Unternehmenskultur von OceanGate war aufs Geldverdienen ausgerichtet und bot «sehr wenig Wissenschaft», sagte Lochridge aus.
In seiner Aussage beschrieb der ehemalige Mitarbeiter einen Bericht, den er 2018 verfasst hatte. Darin legte er seine Bedenken bezüglich der Kohlefaser-Hülle der Titan dar, die gemäss Lochridge Mängel hatte. Als er vom Marine Board of Investigation der US-Küstenwache gefragt wurde nach seinem Vertrauen in die Art und Weise, wie das Tauchboot im Jahr 2017 gebaut worden war, sagte Lochridge: «Kein Vertrauen, ganz und gar nicht, und das habe ich sehr deutlich zum Ausdruck gebracht und tue es immer noch.»
Nach der Abgabe seines Berichts habe es ein mehrstündiges Meeting, unter anderem mit dem OceanGate-Gründer und CEO, Stockton Rush, gegeben. Danach wurde Lochridge gefeuert, kurze Zeit später kam er in ein Whistleblower-Schutzprogramm. Eine Abschrift von Lochridges Entlassungsgespräch mit Rush und anderen OceanGate-Mitarbeitern zeigte die Spannungen zwischen den beiden Unternehmensleitern. Ein in Teilen geschwärztes Transkript dieses Gesprächs wurde letzte Woche veröffentlicht.
Obwohl klar gewesen sei, dass die Kündigung aufgrund seiner «Anti-Projekt-Haltung» kam, stellte Lochridge klar, dass er grundsätzlich hinter der Idee stand. «Ich wollte meinen Job nicht verlieren», sagte er. «Ich wollte auf die Titanic gehen. Sie stand auf meiner Wunschliste. Ich wollte dort tauchen – aber sicher.»
Gemäss dem Whistleblower habe die Firma – auch auf Drängen von Stockton Rush, der später ebenfalls unter den fünf Toten war – mehrere wichtige Schritte übersprungen. Rush habe die Dinge gerne «billig» gemacht, und es habe den Anschein gemacht, als wolle man so schnell wie möglich mit den Tauchgängen beginnen. So habe Rush den allerersten Titan-Prototyp bemannt testen wollen, obwohl Lochridge aufgrund seiner Bedenken unbemannte Tests empfahl. «Ich wusste, dass der Rumpf versagen würde», sagte er. «Es war ein absolutes Desaster.»
2019 wurde dann tatsächlich beim ersten Prototyp des Kohlefaser-Rumpfes ein Defekt entdeckt. Dieser sei daraufhin nicht bei Einsätzen zur Titanic verwendet worden, so die Küstenwache. Später wurde aber ein zweiter Kohlefaser-Rumpf hergestellt, der bei Einsätzen zur Titanic verwendet wurde, darunter auch bei dem verhängnisvollen Tauchgang am 18. Juni 2023.
Doch damit nicht genug: Der Hersteller des Titan-Sichtfensters – ein Acrylfenster auf dem Tauchboot – hatte dieses für eine Tiefe von 1000 Metern gebaut und zertifiziert. Gemäss Lochridge habe OceanGate dennoch beabsichtigt, das Tauchboot damit auf 4000 Meter zu bringen – «mit Passagieren, die sich dessen nicht bewusst sind». Dies, obschon es ein Angebot des Herstellers gab, ein geeignetes Fenster herzustellen. Stattdessen habe Rush das Sichtfenster intern von OceanGate entwerfen und von einer dritten Partei herstellen lassen.
Ebenfalls zur Sprache kam letzte Woche ein Vorfall aus dem Jahr 2016. Gemäss Lochridge habe dieser zur Folge gehabt, dass er von seinen Aufgaben entbunden wurde. Der Grund: Er habe Rush bei einem Tauchgang zum Wrack des Schiffs Andrea Doria im Jahr 2016 mit dem Tauchboot Cyclops 1, einem Vorgänger der Titan, versehentlich «in Verlegenheit gebracht».
Lochridge, ein erfahrener Tauchbootpilot, sagte aus, dass er mehrere zahlende Kunden zu dem Wrack habe bringen sollen. Rush, der OceanGate-CEO, wollte allerdings den Tauchgang selber steuern. Lochridge sagte, er habe sich dagegen gewehrt und darauf hingewiesen, dass das Wrack «gefährlich» sei und dass zu dieser Zeit mehr als ein Dutzend Menschen bei Tauchgängen an diesem Ort ums Leben gekommen seien. Er habe Rush schliesslich dazu überredet, ihn mitfahren zu lassen.
Dieser habe während des Tauchgangs mehrere Fehler gemacht, so Lochridge, unter anderem habe er Probleme mit der Strömung ignoriert und sich nicht genügend vom Wrack ferngehalten. Daraufhin habe sich das Tauchboot tatsächlich im Wrack festgefahren, trotzdem habe Rush sich geweigert, Lochridge die Kontrolle über das Tauchboot zu überlassen – bis eines der Besatzungsmitglieder Rush anschrie, Lochridge den PlayStation-Controller zu geben. Rush habe ihm daraufhin den Controller an den Kopf geworfen.
Dieser Version widerspricht allerdings Renata Rojas, die ebenfalls letzte Woche aussagte. Sie war lange Teil der OceanGate-Missionen. In der Anhörung lobte Rojas, die teilweise sehr emotional wurde, die Transparenz des Unternehmens. Auf jeden Tauchgang seien Nachbesprechungen gefolgt, in denen alle Fragen offen diskutiert wurden, sagte sie. Das Unternehmen sei in Bezug auf den experimentellen Charakter der Titan immer ehrlich gewesen.
Rojas bezeichnete die Mitarbeitenden zudem als «fleissige» und «erstaunliche» Menschen, die «Träume haben wahr werden lassen». Der Vorfall, den Lochridge beschrieb, habe nie so stattgefunden; Rush habe immer die Ruhe bewahrt und auch nichts herumgeworfen.
Der Vorfall, wie dramatisch er auch war, war nicht der einzige. Bei der Anhörung erzählte Steven Ross, wissenschaftlicher Direktor bei OceanGate und Besatzungsmitglied, von insgesamt drei Vorfällen: Zwei hätten sich während Tauchgängen der Titanic-Expedition im Jahr 2022 ereignet. Unter anderem sei beim Auftauchen des Tauchboots ein lauter Knall zu hören gewesen.
Der dritte Vorfall geschah auf der vierten Titan-Mission im Jahr 2023 – kurz vor der fatalen Mission des Tauchboots. Steven Ross erzählte vor dem Ausschuss der US-Küstenwache, dass eine Fehlfunktion das Tauchboot während des Tauchgangs so stark erschütterte, dass die Menschen an Bord «herumtaumelten», während der OceanGate-Mitbegründer Stockton Rush gegen ein Schott prallte.
«Ein Passagier hing kopfüber», sagte Ross. Die beiden anderen konnten sich in der vorderen Kappe festhalten. Er wisse nicht, ob der Rumpf der Titan nach dem Vorfall untersucht worden sei, so Ross. Der Tauchgang wurde daraufhin abgebrochen. Auch dieser Tauchgang sei von Rush gesteuert worden, so der wissenschaftliche Direktor. Er fand nur sechs Tage vor der fatalen Implosion der Titan neben der Titanic statt.
Die Anhörung in South Carolina dauert voraussichtlich noch bis Ende Woche. Es werden weitere Zeugen erwartet – gut möglich, dass also noch mehr Hintergründe ans Licht kommen.
Die Kohlefaserhülle hatte nicht nur Mängel. Diese war für diese Tiefen komplett ungeeignet. Nicht um sonst werden Tiefsee-Tauchboote aus Titan gebaut, wobei die Personenkapsel aus einem Guss stammt.
Kohlefaser können unter Druck reißen oder Mikrorisse bilden, die das Ganze destabilisiert. Davor haben viele Menschen gewarnt, aber Stockton Rush wollte nicht hören.
Das schlimme mal wieder ist, dass diese Katastrophe komplett vermeidbar war.