Sonntag, 3. November, 15:30 Uhr: Er hat's noch immer drauf, der Alte. Im Baird Center in Milwaukee zeigt Barack Obama, wie man einen Donald Trump auch angehen könnte. Der 63-jährige Ex-Präsident ist da, um den Demokratinnen – Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris und Senatorin Tammy Baldwin – einen letzten Schub zu verleihen. Er spricht von der wirtschaftlichen Härte für das Durchschnittsvolk und zeigt Verständnis für die Sehnsucht nach change: «Ich verstehe die Leute, welche die Dinge aufmischen wollen. Was ich nicht verstehe, ist, wie Donald Trump sie für uns aufmischen könnte.»
Obama spottet, Trump rede nur über «das Konzept eines Plans» für einen Ersatz der Obamacare-Krankenversicherung: «Stell dir vor, deine Frau fragt, wie weit du mit dem Abwasch bist, und du sagst: ‹Ich schaue gerade Football, ich habe ein Konzept eines Plans.› Warum sollte das für den Präsidenten der USA funktionieren, wenn es daheim nicht funktioniert?» Trump habe keine greifbaren wirtschaftlichen Konzepte, und jene, die er habe, seien schädlich. Fast eine Stunde zelebriert Obama vor mehreren tausend begeisterten Anhängern ein Feuerwerk aus Humor, Unterhaltung, Polemik und scharfem Argument, wie es im laufenden Wahlkampf selten zu sehen ist.
Natürlich preist er Harris in höchsten Tönen: «Generationenwechsel», charakterliche Integrität, harter Einsatz. Aber er legt die Akzente anders als sie. Harris vermeidet es, den Namen des ungeliebten Präsidenten Joe Biden zu nennen, mit dem sie als Vizepräsidentin regiert und den sie beerben will. Obama nennt Biden, seinen einstigen Vize, mehrfach und im positiven Sinn.
Er konzentriert sich auf die Frage, was weitere vier Jahre Trumpismus dem kleinen Mann bringen würden, während Harris die Abtreibungsfrage stark betont und die Gefahr einer Quasi-Diktatur unter Trump beschwört. Bei Obama ist die Abtreibung eine Parenthese unter anderen und die Diktaturgefahr bleibt unerwähnt. Er reibt den schwankenden Republikanern die zahlreichen Charaktermängel ihres Kandidaten unter die Nase und fragt, ob so einer wirklich ins Weisse Haus gehöre.
Im Wirbelwind der letzten Wahlkampftage umschwärmen Kamala Harris und Donald Trump den Swing State Wisconsin wie die Fliegen einen frisch gelegten Misthaufen. Ihre Propaganda dröhnt erbarmungslos auf allen Kanälen, ermöglicht durch rekordhohe Spendengelder (Harris hat eine Milliarde Dollar eingetrieben und verfügt über mehr Geld als Trump).
Die Harris-Kampagne setzt darauf, durch Trump abgestossene Republikaner abzuwerben, vor allem in den Vororten und vor allem Frauen, die das Machogehabe und die von Trump ermöglichte Aufhebung der Abtreibungsfreiheit abstösst. Die Trump-Werbung hat es mit der Geschlechtsumwandlung und der Transsexualität: Auch als sporadischer Fernsehzuschauer kommt man nicht um den Clip herum, in dem Harris sich für den Zugang zu Sex-Change-Operationen für Gefangene einsetzt.
Die Auftritte der Haupt- und Nebenfiguren folgen sich Schlag auf Schlag. Am Freitag war die Metropole Milwaukee, ungefähr so gross wie Zürich, das Epizentrum. Am selben Abend hielten Harris und Trump innerhalb weniger Kilometer grosse Rallys ab.
Freitag, 1. November, 16:00 Uhr: Die Harris-Veranstaltung ist im State Fair Park ausserhalb des Stadtzentrums angesagt, Schauplatz des jährlichen State Fair, der für Wisconsin etwa das ist, was die Olma für die Ostschweizer: Viehschau, Bratwurst, Chilbibetrieb. Die Gebäude auf dem Areal einschlägig beschriftet, sheep & goat, swine & goat, an den zugesperrten Verkaufsständen ist angeschrieben, was dort angeboten wird: Rollbraten, brats, cheese curds, kraut. Kulinarische Reste der deutschen Siedlungsgeschichte.
Eine Einweiserin macht gymnastische Kapriolen. Sie heisst Diana, ist pensioniert und für drei Wochen aus dem demokratischen Boston als Wahlhelferin ins umkämpfte Wisconsin gekommen. Diana geht canvassing. Sie klopft an Haustür um Haustür, um die Bewohner zur Wahl zu bewegen. Gefragt, ob die Harris-Werbung bei der republikanisch gestimmten Wählerschaft funktioniere, antwortet sie: «Ein bisschen.» Sie treffe auf konservative Leute, die empfänglich seien, aber noch viel mehr auf solche, die Trump trotz aller Vorbehalte die Stange hielten.
Diana erzählt eine schier unglaubliche Geschichte. Heute Morgen sei sie einem Mann begegnet, der bereits brieflich gewählt habe. Gefragt, wen, habe der Mann erklärt, er könne seinen zwei Töchtern eine Einschränkung der Abtreibungsfreiheit unmöglich zumuten, also habe er republikanisch gewählt. Er hatte gegen sein eigenes Anliegen gestimmt, weil er es nicht der richtigen Partei zuordnen konnte.
Freitag, 1. November, 17:30 Uhr: Die Halle, Kapazität 10’000, füllt sich allmählich mit Volk aus allen sozialen Ecken. Im Publikum hat es weniger Freaks als bei Trump, es geht eine Spur gesitteter zu. Auf der Bank entspinnt sich ein Gespräch mit zwei älteren Frauen, beide weiss, beide aus den Suburbs, über das Thema Abtreibungsfreiheit. Harris hämmert dem Publikum wieder und wieder ins Bewusstsein, dass Trumps Oberster Gerichtshof das national geltende Recht auf Abtreibung gekippt und auf die Ebene der Gliedstaaten geschoben hat. Der landläufigen Meinung zufolge wird ihr dies konservative Frauenstimmen eintragen. «Viele Frauen werden in der Abgeschiedenheit der Wahlkabine ihr Kreuzlein bei den Demokraten machen», sagt ein Bekannter, «und sie werden es ihren Männern nicht sagen.»
Wie viel Zugkraft hat das Argument also? «Es ist nicht so wichtig», sagt Tayyibah aus der Stadt Mequon. «Es kommt auf, ja. Aber es ist nicht das Wichtigste.» Ihre Begleiterin aus Germantown teilt die Skepsis. Sie wählt Harris nicht wegen, sondern trotz der Abtreibungsfrage: «Ich war Krankenschwester in einer Gynäkologie. Ich habe zu oft gesehen, dass Abtreibungen schlicht als Form der Geburtenkontrolle benutzt wurden. Ich mag das bis heute nicht.» Tayyibah denkt, Harris reite zu sehr auf der Abtreibungsfrage herum und sollte sich mehr auf «die Wirtschaft» konzentrieren. Wie Obama.
Sie ist keine Einzelstimme. In den Zufallsgesprächen auf dem Road Trip von New York City nach Milwaukee werden ziemlich regelmässig Vorbehalte gegen die Kandidatin laut. Es gibt Demokraten, die sich mehr Klartext und weniger rhetorischen fluff wünschen. «Halbseidig» oder «unfassbar» wird die Kandidatin genannt, zu verschwommen in der Frage, was sie für den kleinen Mann erreichen werde. «Sie sagt jedem, was er hören will», meint eine Frau in Milwaukee, die sich weder für die eine noch die andere Seite entscheiden kann. Sie will bemerkt haben, dass Harris ihren Akzent je nach Geografie färbt – ein bisschen twang im Süden, ein wenig Pastoren-Brimborium vor schwarzem Publikum.
Eine junge Nichtwählerin in Boston («niemals Trump») bringt ihr Unbehagen gegen Harris so auf den Punkt: «Sie ist Anwältin. Sie hat gelernt, zu reden, ohne etwas zu sagen.» Sicher ist das Geschlecht ein Faktor, dass Harris gegen Trump nicht vom Fleck zu kommen scheint. Von exotischen Ausnahmen abgesehen, sagt das niemand deutlich. Aber in den Umfragen ist der gender gap so hoch wie nie: Männer mögen Trump und neigen nur zu etwas mehr als einem Drittel zu Harris – bei den Frauen ist es spiegelverkehrt.
Gefragt, aus welchen Gründen ausser dem Protest gegen den Gaza-Krieg er Trump wähle, antwortet Ahmad, der muslimische Tankstellenbesitzer in Hamtramck: «Das ganze Zeug mit Mann und Frau.» In Wigley’s Deli in Detroit sagte der Manager, ein Katholik aus Kosovo, der gender bullshit treibe Trump Wähler zu.« 99 Prozent der Leute kümmern sich einen Scheiss darum. Aber wenn ich einen Mann sehe und man mir sagt, ich solle ihn mit Miss ansprechen, geht mir die Galle über.»
Wahrscheinlich hat Kamala Harris sich am Samstagabend einen grossen Gefallen in Sachen Image getan. Sie trat in der populären Satireshow «Saturday Night Live» als sich selbst auf, zusammen mit Maya Rudolph, die sie dort verkörpert. «Ich stimme für uns beide», sagte Rudolph. Donald Trump muss im Roten drehen: Die Konkurrentin hat den Reality-TV-Star in seiner eigenen Domäne, auf dem TV-Bildschirm, geschlagen.
Freitag, 1. November, 20:15 Uhr: Auf ins Fiserv Forum (Kapazität 17’000) downtown, wo die Trump-Veranstaltung begonnen hat. Vor dem Eingang stehen die Verkäufer der T-Shirts, Hüte, Chilbiramsch. Auffallend: Die auf das Geschlecht der Kandidatin zielenden Sprüche (the ho – «die Hure»), die vordem zu sehen waren, sind aus dem Verkehr gezogen. Im Forum sind die obersten Ränge leer, aber so viele Besucher wie bei Harris werden es sein. Man trägt rote Kappe, make America great again.
Das Publikum ist auch hier gemischt, ein Unterschied in der sozialen Zusammensetzung ist nicht auszumachen. Ausser einem: Das Männervolk ist eine Spur austrainierter als bei Harris, sein Gang oft etwas dezidierter, das Kinn nicht selten kantiger, der Bizeps ein wenig deutlicher konturiert. Das passt. Donald Trump zeichnet das Image des Rebellen. Auf den T-Shirts an den Ständen ist er der Outlaw, in seinen Reden kultiviert er die Männlichkeit der Action-Helden. Er umgibt sich mit Kampfsportfiguren und Wrestlern, und er signalisiert dem Macho in subtiler Weise, dass es in Ordnung ist, den Mann Mann sein zu lassen oder auch einmal durchzugreifen.
Vor einigen Tagen pries er in einem längeren Exkurs die Maskulinität des ehemaligen Profigolfers Arnold Palmer in allen Facetten – einschliesslich der angeblich ausserordentlichen Penislänge. Die landläufige Meinung sagt, damit habe er bei den jungen Schwarzen Erfolg und bei den Latinos, welche an den überkommenen Trennlinien zwischen Mann und Frau festhalten. Wie weit das stimmt, ist umstritten. Sicher zielen Trumps Signale auch auf den wokeism, die Schleifung der Geschlechterschranken in Sprache, Verhalten, Vorschriften und Benimmregeln.
Am Getränkestand kommt ein Gespräch mit einem älteren Mann zustande. Gefragt, was nach der Wahl passiert, sagt er ohne mit der Wimper zu zucken: «Wenn Harris gewinnt, gibt es Krieg.» Er meint es so, Krieg mit Mord und Totschlag. Er sagt, Harris wolle das Recht auf freie Rede einschränken und als «Hassrede» strafverfolgen, wenn Unpassendes gesagt werde. Das sei die rote Linie. «Wenn die Tyrannei zum Recht wird, ist Rebellion rechtens», sagt er, «da drinnen denken alle so.» Wenn ein erstes Urteil gefällt werde, könne die Rebellion starten. Und die von christlichen Eiferern verordneten Bücherverbote an Schulen und Bibliotheken? «Linke Lüge – das sind keine Verbote, da wird nur Pornografie entfernt, wo sie nicht hingehört. Sie können das weiterhin kaufen.»
Der Mann ist nicht der Einzige, der ernsthaft von Krieg redet. An einer Raststätte in Michigan sagt Chad, Noch-nicht-Wähler («Ich mag beide nicht»), in grosser Selbstverständlichkeit, er rechne binnen zwei Jahren mit einem Bürgerkrieg. Es könne gut sein, dass ein Gliedstaat wie Texas sich wegen der Streitigkeiten um den Grenzschutz von den USA abspalte und eigene Truppen aufstelle.
Das Gespräch am Getränkestand driftet in einen Monolog über Pädophile und Geschlechtsumwandlung an Kindern ab, als Robert Kennedy ans Podium tritt. Der Covid-Impfgegner war als Unabhängiger ins Rennen gestiegen, hat sich im Sommer aber hinter Trump gestellt. Er könnte Gesundheitsminister werden. Kennedy redet nahezu unverständlich, ein Mix aus Genuschel und Heiserkeit. Applaus bricht los, als er mitteilt, er habe seine Anhänger aufgefordert, nicht für ihn zu stimmen.
Freitag, 1. November, 21:30 Uhr: Auf die Bühne im State Fair Park tritt die Rapperin Cardi B. Sie sagt, sie habe eigentlich nicht wählen wollen. Aber als Kamala Harris auf den Plan getreten sei, habe sie ihre Meinung geändert. Dann ruft sie die Kandidatin auf die Bühne. Der Applaus tost, Harris bleckt die Zähne zu einem strahlenden Lächeln. Jetzt werde «das Blatt gewendet», sagt sie. Man gehe nicht zurück in die Trump-Ära. Man müsse verhindern, dass «einer, der zunehmend instabil und von Rache besessen» sei, an die Macht komme. Sie halte ihre Gegner nicht für Feinde und werde «eine Präsidentin für alle» sein. I will fight for you.
Die Demokraten haben in den letzten 40 Jahren in den USA primär eins gebracht; Wohlstand und Stabilität. Jede Statistik und alle Wirtschaftsexperten werden dies bestätigen. Nur verkaufen könne sie Ihre Leistungen nicht.
Weil sie einer Falschaussage glauben: Wie zum Beispiel Trump, der gesagt hat, er sei der grösse Frauenrechtler der Welt, weil er den Bundestaten das Recht zurückgibt über Abtreibungen zu entscheiden. Gleichzeitig ist er verantwortlich, dass 100 Tausende von Frauen kein Recht mehr auf ihren eigenen Körper haben und Ärzte können keinen hippokratischen Eid erfüllen.