Es könnte die Einleitung eines Monty Python Sketches sein: In den letzten Tagen flogen Dutzende bis Hunderte Privatjets ins ägyptische Sharm el-Sheikh, um über Massnahmen gegen die Erderwärmung zu verhandeln.
Die Zwischenbilanz der Klimakonferenz: Ernüchternd. Wie jedes Jahr. Die Schlagzeilen: Pessimistisch. Wie jedes Jahr. «Schweiz nur teilweise zufrieden mit Verlauf von Klimakonferenz», schreibt etwa die SDA. «Langsame Fortschritte schüren Sorge um Abschlussvereinbarung», titelt Reuters. Zu Recht könnte man sich fragen: Was bringen diese Konferenzen eigentlich?
Einige Aushängeschilder der Klimastreik-Bewegung haben den Glauben an die Jet fliegenden Staatschefs bereits verloren. So erklärte Greta Thunberg Ende Oktober, dass sie nicht nach Ägypten reisen werde. Der Grund: Die Klimakonferenz sei ein «kolossaler Betrug». Sie sei lediglich «eine Gelegenheit für Politiker und Machthaber, um Aufmerksamkeit zu erregen.»
Die 19-jährige Klimaaktivistin rief zu einem Systemwandel auf, da die derzeitige Normalität der Welt die Klimakrise erst verursacht habe. Thunberg sagte: «Was wir als normal bezeichnen, ist ein extremes System, das auf der Ausbeutung von Menschen und des Planeten beruht.»
The climate deniers and delayers are so desperate and feel so threatened that they simply make up their own “quotes” from pure lies and fantasies. This is what I have said about systems and ideologies: pic.twitter.com/FNacu4EYZv
— Greta Thunberg (@GretaThunberg) November 2, 2022
Die deutsche Klimaaktivistin Lisa Maria Neubauer haut in dieselbe Kerbe. «System Change not Climate Change» lautet das neue Motto der Bewegung. Es fordert nichts Geringeres, als vorhandene Machtstrukturen aufzubrechen, den Kapitalismus zu überwinden und das grenzenlose Wirtschaftswachstum zu beenden.
Bevor jetzt Hände über den Köpfen verworfen werden und einem das Totschlagargument «linksextrem» über die Lippen gleitet: Was heisst Systemwechsel überhaupt? Was wird hier gefordert und warum? Und nicht zuletzt: Gibt es tatsächlich keinen anderen Weg aus der Klimakrise?
Machtstrukturen aufbrechen – klingt abenteuerlich. Stoff für einen Heldenfilm. Doch um Machtstrukturen aufbrechen zu können, muss erst das Wort «Machtstrukturen» an sich aufgebrochen werden. Was heisst Macht? Und von welchen Strukturen sprechen wir hier?
Die genaue Beantwortung dieser Frage würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Am Ende des Textes finden Interessierte eine Infobox mit einer Übersicht zu dem Thema. Für uns ist wichtig: Immer mehr Klimawissenschaftlerinnen und Ökonomen argumentieren, dass es keine Rolle spielt, wer die Macht hat oder aus welcher Partei die Staatschefs dieser Welt sind. SP oder SVP, Republikaner oder Demokraten, Bharatiya Janata oder Trinamool Congress – wachse die Wirtschaft nicht, bedeutete das Arbeitslosigkeit, Statusverlust, Existenzängste. Bis hin zur Obdachlosigkeit und dem Verhungern.
Oberstes Ziel jeder Regierung im Kapitalismus sei es dementsprechend, das Wirtschaftswachstum zu maximieren. Egal, wie grün man sich gebe. Doch die Wirtschaft könne nicht weiter wachsen, ohne die Menschheit in eine Klimakatastrophe zu stürzen. Die einzige Lösung: ein politischer Übergang. Vom Wirtschaftswachstum als oberste Priorität zur Akzeptanz eines schrumpfenden BIP als Voraussetzung für die Rettung des Planeten. Oder einfacher: eine Abkehr vom Kapitalismus, wie wir ihn heute kennen.
Die Volkswirtschaften dieser Welt sollen also schrumpfen. Bekannt ist diese Idee als «Degrowth» – lose übersetzt «Antiwachstum». Im deutschsprachigen Raum spricht man auch von «Postwachstum». Ihren Ursprung hatte die Idee in den 70er-Jahren.
Die Degrowther sind überzeugt, dass sich das Wirtschaftswachstum in der modernen Welt von der Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen abgekoppelt hat. Heisst: Technologische Fortschritte wie umweltfreundlichere Häuser oder Solarpanels würden nicht zur Reduktion des CO₂-Ausstosses verwendet, sondern dafür, bei gleichbleibendem CO₂-Ausstoss mehr produzieren zu können.
Um die Klimakrise zu bewältigen und ultimativ das Überleben unserer Spezies zu sichern, muss der CO₂-Verbrauch jedoch sinken. Also müsse dies Priorität haben, um jeden Preis, sagen die Degrowther. Emissionen müssen auf Null gebracht werden, auch wenn dies hiesse, dass die Wirtschaft schrumpft. In ihrem neuen Buch beschreibt Greta Thunberg das so:
Die Forderung Thunbergs ist auch im wissenschaftlichen Mainstream zu finden. Mehr als 26'000 Wissenschaftlerinnen unterzeichneten 2019 einen offenen Brief. Darin wird gefordert, dass die Menschheit die Erhaltung der Ökosysteme höher priorisieren solle als das Wirtschaftswachstum. Auch der IPCC verwies in einem kürzlich erschienen Bericht auf Degrowth. Mehrere Bücher von namhaften Anthropologen und Klimawissenschaftlern erschienen dazu in den vergangenen Jahren. Selbst der ehemalige US-Energieminister und Physikprofessor Steven Chu sagte:
Fragt sich bloss: Wie soll das funktionieren? Die Lösung besteht nach Ansicht der Degrowth-Bewegung darin, die Produktion unnötiger Güter einzuschränken und zu versuchen, die Nachfrage nach Dingen zu verringern, die nicht benötigt werden.
James Hickel, Anthropologe und führender Wissenschaftler im Bereich Degrowth, beschrieb dies so: «Wenn unsere Waschmaschinen, Kühlschränke und Telefone doppelt so lange halten würden, würden wir nur halb so viele davon verbrauchen. Aber unser Zugang zu diesen Gütern würde sich nicht verschlechtern.»
Doch es geht nicht nur um Kühlschränke. Food Waste soll verringert, eine Tauschwirtschaft aufgebaut, private Transportmittel verboten werden. Letztlich soll das BIP schrumpfen, ohne Armut oder einen geringeren Lebensstandard zu verursachen.
«Wir schlagen Massnahmen wie einen existenzsichernden Lohn und Vermögenssteuern vor, um dies zu erreichen», sagte Hickel. «Länger haltbare Produkte, kürzere Arbeitswochen, besserer Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen und bezahlbarem Wohnraum – wir fordern das Gegenteil von Armut. Ja, Industrien wie SUVs und Fast Fashion würden zurückgehen, aber das bedeutet nicht Armut. Wir können sie durch öffentliche Verkehrsmittel und langlebigere Mode ersetzen und so die Bedürfnisse aller erfüllen.»
Klingt toll. Doch es gibt ein Problem. Nein, viele Probleme. Erstens: Menschen, die gegen wirtschaftliches Wachstum argumentieren, sind meistens nicht diejenigen, die am meisten vom Wachstum in den nächsten Jahrzehnten profitieren würden.
Dass man im Westen Autos verbietet, die so gross sind wie eine Einzimmerwohnung, wäre ein Opfer, dass es sich wahrscheinlich zu erbringen lohnt, um das Klima zu retten. Aber die meisten Menschen dieser Welt sind nach wie vor arm. Einem Entwicklungsland zu empfehlen, es soll schrumpfen, weil die Industriestaaten den Planeten zerstört haben, um sich zu bereichern: Das ist, nun ja, etwas unfair.
Die Degrowther haben sich dies natürlich auch schon überlegt. Die Lösung für das Problem: Man trifft sich in der Mitte. Ärmere Länder könnten sich bis zu einem gewissen Punkt entwickeln, reichere Länder bis zum selben Punkt schrumpfen. «Wir leben auf einem Planeten, auf dem Ressourcen im Überfluss vorhanden sind und auf dem wir alle gemeinsam gedeihen können. Aber dazu müssen wir ihn gerechter teilen», sagte James Hickel.
Doch so einfach ist das nicht. In einer globalisierten Welt können reiche Staaten nicht einfach schrumpfen, während die armen wachsen. Was plötzliche Konsumstopps bewirken, hat man während der Coronapandemie gesehen. Entwicklungsländer litten unproportional mehr. Es gilt also auch hier der Grundsatz: Die Armen trifft es immer am stärksten.
Zudem: So unvollkommen wie das Bruttoinlandsprodukt auch sein mag, man kann nicht leugnen, dass ein höheres BIP gleichbedeutend ist mit einem besseren Leben. Reiche Länder stehen in fast allen Metriken besser da. Von Bildung, Lebenserwartung, allgemeine Gesundheit und Kindersterblichkeit bis zur Beschäftigung von Frauen.
Degrowther wollen verhindern, dass eine Schrumpfkur den Entwicklungsländern schadet, indem sie gleichzeitig für wirtschaftliche Gerechtigkeit kämpfen. Also etwa ungleiche Handelsbeziehungen beenden oder einheimische Industrien fördern. Wie genau das jedoch funktionieren soll, dazu gibt es noch kein Patentrezept. Das sorgt für Kritik: «Die Degrowther leben in einer Fantasiewelt. Sie gehen davon aus, dass wenn man einen kleineren Kuchen backt, die Ärmsten aus irgendeinem Grund einen grösseren Anteil davon bekommen», sagte Per Espen Stoknes, Direktor des Center for Green Growth an der Norwegian Business School. «Das ist noch nie passiert.»
Das politische Gegenstück zur Degrowth-Bewegung ist die Green-Growth-Bewegung. Also das grüne Wachstum. Ein Weg, den die meisten Regierungen dieser Welt einschlagen, um den Klimawandel zu bekämpfen. Dabei soll das Wirtschaftswachstum vom CO₂-Ausstoss entkoppelt werden.
Tatsächlich ist es bereits 23 Ländern gelungen, ihr BIP-Wachstum von den Treibhausgasemissionen zu entkoppeln. Dafür wurden Kohlekraftwerke stillgelegt, Fabriken gezwungen, effizienter zu arbeiten, und Windturbinen und Sonnenkollektoren gebaut, die sauberen Strom erzeugen.
The world is starting to learn how to decouple growth from CO2 emissions pic.twitter.com/JvJYXd5spn
— Science Is Strategic (@scienceisstrat1) October 31, 2022
Doch das ist bei Weitem nicht genug. 2021 wurde so viel CO₂ ausgestossen wie nie zuvor. Auch die bisherigen Anstrengungen der Weltgemeinschaft, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu drosseln, sind ungenügend. Um das Ziel dennoch zu erreichen, ist eine grosse Portion Optimismus vonnöten.
Hier liegt auch das Problem der Degrowther. Denn wie die Vox-Journalistin Kelsey Piper analysierte, sind die Vorschläge der Green Growther immer noch um einiges realistischer als diejenigen der Degrowther.
Die Degrowth-Bewegung vermag es ausserordentlich gut, die Schwächen, Probleme und Ungerechtigkeiten des jetzigen Systems aufzuzeigen. Sie hat recht, wenn sie sagt, dass es sehr, sehr kompliziert sein wird, die Menschheit und unseren Planeten durch das 21. Jahrhundert zu manövrieren. Und es ist angebracht, skeptisch über die Erfolgsaussichten der momentan verhandelten Massnahmen zu sein. Geht es jedoch um die Herkulesaufgabe, Wohlstand und Lebensstandard zu entkoppeln und dabei noch die Klimaerwärmung zu beenden, wird sie seltsam optimistisch. Ganz zu schweigen davon, dass die vorgeschlagenen Massnahmen der Bewegung fast schon lächerlich unzureichend erscheinen.
Die COP27 in Sharm el-Sheikh kann kritisiert werden. Dafür, dass viele der teilnehmenden Staatschefs den Ernst der Lage nach wie vor nicht erkannt haben. Dafür, dass grosse Firmen wie Amazon den Auftritt für Greenwashing missbrauchen. Dafür, dass der Klimawandel in der Mainstream-Wirtschaftspolitik immer noch viel zu wenig Beachtung findet.
Denn die Realität ist: Es bleibt nicht mehr viel Zeit, um das Ruder herumzureissen. Der CO₂-Ausstoss muss jetzt sinken. Es braucht massive Investitionen in grüne Energie, nachhaltige Landwirtschaft und Naturschutz. Es braucht Dekarbonisierung und Transferzahlungen an arme Länder, die unverhältnismässig stark unter dem Klimawandel leiden. Und ja, es braucht all das schneller, als es momentan umgesetzt wird.
Die Klimakonferenz deswegen aber zu boykottieren und als kolossalen Betrug zu bezeichnen, ist falsch. Das untergräbt die Tausenden von Klimawissenschaftlern und Organisationen, die sich dem Kampf gegen den Klimawandel verschrieben haben und vor Ort für Lösungen kämpfen.
Die Degrowth-Bewegung liefert hierfür wertvolle Denkanstösse: Fast Fashion hat wahrscheinlich keinen Platz in einer nachhaltigen Welt, genauso wenig wie SUVs. Es ist elementar, dass die grüne Energierevolution nicht die bestehenden Muster der Ausbeutung und des übermässigen Ressourcenabbaus im Globalen Süden wiederholt. Die Regierungen dieser Welt sollten zudem die zur Verfügung stehenden Ressourcen in ihre BIP-Berechnung einbeziehen (lies dazu: Material Productivity).
Doch zu glauben, in dem kurzen Zeitfenster, das uns noch bleibt, die gesamte Welt auf den Kopf zu stellen und sie so zu retten, ist nur eines: naiv.
Denn am Ende werden wie vielerorts ein paar unverbindliche Worthülsen aufs Papier gedruckt, ein paar Erinnerungsfotos für die Presse gemacht und mit dem Privatjet nach Hause gejettet.