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Serienmarathon: Die Debatte um Binge-Watching entfacht gerade neu

Watching Squid game show on TV. Squid game is a South Korean survival drama television series streaming on Netflix
Nicht auf allen Streaming-Plattformen ist Binge-Watching möglich.Bild: Shutterstock
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Serienmarathon bis zum Erbrechen: Eine aussterbende Gewohnheit?

Netflix hat die Veröffentlichung einer kompletten Staffel normalisiert und damit das Binge-Watching in den Wortschatz der Zuschauer aufgenommen. Andere Plattformen setzen auf eine wöchentliche Ausstrahlung. Doch die Debatte um Binge-Watching entfacht gerade neu.
09.03.2025, 19:3709.03.2025, 19:37
Sven Papaux
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Es ist eine Endlosdebatte, ein ewiges Streitthema, bei dem zwei Lager unermüdlich aneinandergeraten: lieber Binge-Watching (alle Folgen auf einmal) oder doch Folge für Folge im wöchentlichen Rhythmus?

Die Zeiten der getakteten Fernsehausstrahlung, an denen man bis Samstagabend auf eine neue Folge warten musste, sind längst vorbei.

Denn Netflix setzte sich in den 2000er Jahren den Vorsatz, die Branche zu revolutionieren und fegte alte Gewohnheiten mit einem Schlag weg: Das Binge-Watching hielt Einzug, und plötzlich konnte man eine ganze Staffel am Stück verschlingen. Die Plattform leitete ein neues Kapitel im goldenen Zeitalter der Serien ein.

Die Erklärungen des Netflix-CEOs zur Einführung des Binge-Watchings

Damals eine Neuheit, die den Alltag vieler Serienfans durcheinandergebracht hat. Eine Umfrage der American Academy of Sleep Medicine aus dem Jahr 2019 ergab, dass 88 Prozent der amerikanischen Erwachsenen angaben, aufgrund des übermässigen Konsums von Fernsehen und Streaming-Serien an Schlafmangel zu leiden.

Eine komplette Staffel, direkt verfügbar – da wird es schwer, den eigenen Impulsen zu widerstehen, wie ein Süchtiger auf der Suche nach seiner nächsten Dosis. Aufhören? Schier unmöglich. Die nächste Folge startet automatisch, das Herz schlägt schneller bei der Vorstellung, wie es weitergeht, nachdem ein wahnsinniger Cliffhanger uns die Kinnlade herunterklappen liess.

Unsere verwöhnte Ungeduld wird rundum befriedigt, und die Plattformen nutzen das aus, um uns mit dieser süssen Versuchung des Entertainments vollzustopfen.

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Doch das Binge-Watching neigt dazu, die Vorstellungskraft zu ersticken. Dieses hastige Verschlingen von Episode nach Episode lässt kaum Raum für Austausch – für das Nachdenken über das, was wir da mehrere Stunden lang gesehen haben. Weit entfernt scheinen die Zeiten, in denen man leidenschaftlich Theorien wälzte und über Verschwörungen spekulierte.

Diese intellektuelle Auseinandersetzung, die sich manchmal in einen inneren Monolog verwandelt, hat kaum noch eine Daseinsberechtigung. Die Zeit zum Nachdenken wird erdrückt von diesem winzigen Moment, in dem man theoretisch auf «Stopp» drücken könnte – es aber selten tut.

Das Binge-Watching hat die Regeln auf den Kopf gestellt

Dieses konsumlastige Format beeinflusst auch das Erstellen der Drehbücher und verändert die Regeln der Serie. Die Serie vom dänischen Regisseur Nicolas Winding Refn, «Too Old to Die Young», ist hingegen ein Beispiel für diese Tendenz, die Konventionen zu umgehen. Er erklärte 2018 gegenüber «Vanity Fair»:

«Meine Serie ist in zehn ungleich lange Episoden unterteilt. Ich schneide sie, wann immer ich es dramatisch oder ästhetisch für sinnvoll halte, ganz wie die Kapitel in einem Buch.»

Binge-Watching hat die Karten komplett neu gemischt, weshalb sollte man sich also noch an die «Regeln» halten?

Miles Teller in Too Old to Die Young (2019)
«Too Old to Die Young» mit Miles Teller hält sich nicht an konventionelle Serien-Vorgaben.Bild: amazon

Andere warnen vor den Risiken einer schrittweisen Abhängigkeit, wenn Abonnenten mehrere Episoden am Stück verschlingen. Zum Beispiel kann das Ansehen von fünf Episoden hintereinander langfristig zu einer stärkeren Abhängigkeit vom Inhalt führen, wie ein Artikel aus dem Jahr 2016 in «Variety» berichtet.

Und was sind die Vorteile dieses Konsums? Ein intensives Tempo kann das emotionale Engagement mit den Charakteren verstärken und eine tiefere Verbindung zur Geschichte fördern, erklärten Experten gegenüber «Variety».

Netflix als Masseinheit

Netflix hat es verstanden. In diesem Wettlauf um die Aufmerksamkeit haben sie sich selbst sogar zu einer Masseinheit gemacht. Es geht vor allem um die Geschwindigkeit, mit der die Abonnenten eine Staffel komplett durchschauen.

Doch vor dem Binge-Watching, das mittlerweile in unseren Wortschatz eingegangen ist (genauso wie das berühmte «Netflix & Chill»), schleicht sich eine gewisse Nostalgie (oder eine wirtschaftliche Taktik) durch die Flure des Streaming-Riesen. 2022 dachte Netflix darüber nach, seine beliebtesten Serien wieder in einem episodischen Format zu veröffentlichen, um seine Abonnenten so lange wie möglich auf der Plattform zu halten.

Denn auch eine gut geölte Maschine kann manchmal ins Stocken geraten. Um ihre hunderten Millionen Abonnenten zu unterhalten, braucht es Geld und Zeit. Und das Tempo zu halten, ist alles andere als einfach – der Drehbuchautorenstreik hat ausserdem diesen Produktionsrhythmus weiter geschwächt.

In dieser Hinsicht betont Michael Paull, Präsident der Streaming-Abteilung bei Disney, dass es sich um eine Strategie handelt, bei der «Qualität vor Quantität» geht. Aber man muss auch daran erinnern, dass Disney Plus im Vergleich zu Netflix nicht die finanziellen Mittel hat, um die gleiche Geschwindigkeit zu halten. Das Gleiche gilt für Apple TV+, das seit seiner Gründung seinen eigenen Rhythmus beibehält: zwei Episoden, um seine Eigenproduktionen zu starten, bevor es auf einen wöchentlichen Veröffentlichungsrhythmus übergeht.

Adam Scott in "Severance," premiering January 17, 2025 on Apple TV+.
«Severance» mit Adam Scott kommt bei Serienfans super an.Bild: apple

Mit Serien wie «Severance» (Apple TV+), «Paradise» (Disney Plus) oder «The White Lotus» (Sky Show), die derzeit laufen, entdecken die Serienfans wieder den wöchentlichen Veröffentlichungsrhythmus. Heisse Diskussionen nehmen in den sozialen Medien Fahrt auf, die Tendenz, über bestimmte Charaktere zu spekulieren, erlebt eine Renaissance. Besonders «Severance» stürzt die Zuschauer in leidenschaftliche Debatten über die Theorien und die Motive der mysteriösen Firma Lumon Industries.

Eines ist sicher: Nicht alle Zuschauer sind in der Lage, ihren Streaming-Konsum selbst zu rationieren. Aber werden diese drei populären Serien, die nach und nach veröffentlicht werden, dem Binge-Watching à la Netflix den Garaus machen? Der Kampf tobt.

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38 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Spawn
09.03.2025 21:09registriert Januar 2024
Wenn man den Artikel liest hat man den Eindruck, man konnte eine Serie nur "am Stück" schauen seit es Netflix gibt. Das stimmt aber nicht ganz: Früher gab es Serien als DVDs. Zum Teil in wunderschönen Sammelboxen. Wenn man die Zeit hatte, konnte man auch so eine ganze Serie sehen.

Netflix hat Serien schauen, etwas populärer gemacht als es vorher war...wobei aber Lost oder Heros (1. Staffel) schon die "Coolness aufbauten"

Meine erste Lieblingsserie war damals Night Raider. Und ja auch da gab es schon die Möglichkeit mit Videokassetten...
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Pumpido
09.03.2025 22:34registriert Mai 2017
Abwarten bis alles ausgestrahlt ist und dann im eigenen Tempo schauen. Ganz einfach.
Kein Normaler braucht das 'Social-Media-Gequatsche' über eine Serie, die man gerade am schauen ist.
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invisible
09.03.2025 21:22registriert Mai 2019
Gebrochen habe ich beim Bingen noch nie. War das falsch? 🤔
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