Wie ein Schnorchel sieht der Schlauch aus, der vom Beatmungsgerät an Bettina Rimensbergers Rollstuhl direkt in die Kanülen in ihrem Hals führt. Alle zwei Sekunden pumpt ein Apparat mit einem zischenden Geräusch Luft in die Lungen ihres eingefallenen Körpers. Bettina unterbricht dann jeweils kurz den Satz, wartet, bis das Zischen vorbei ist, und spricht mit leiser Stimme weiter.
Sprechen, das geht knapp. Die Augen rollen auch. Und den Zeigefinger ihrer linken Hand, den kann die 31-Jährige noch knapp bewegen. Mit ihm steuert sie den elektrischen Rollstuhl durch die Wohnung, in der sie mit ihren Eltern lebt. Mit ihm schreibt sie auf Whatsapp ihren Freunden. Mit ihm tippt sie via ihr Smartphone an ihrer Doktorarbeit über Austriazismen und Helvetismen in der österreichischen und schweizerischen Gegenwartsliteratur.
Der linke Zeigefinger ist ihr Zugang zur Welt. Über den Rest ihres Körpers hat Bettina die Kontrolle verloren, von Jahr zu Jahr mehr, und wenn nicht bald etwas geschieht, dann droht der jungen Frau aus dem zürcherischen Wetzikon der Tod.
Bettina leidet seit ihrer Geburt an spinaler Muskelatrophie (SMA), einer extrem seltenen Erbkrankheit, die dazu führt, dass Nervenimpulse nicht zu den Muskeln weitergeleitet werden und der Körper die Muskeln langsam abbaut. Rund 100 Menschen leiden in der Schweiz an SMA. Im schlimmsten Fall endet ihr Leidensweg mit dem Erstickungstod.
Bettinas Eltern erfuhren von der Diagnose, als ihre Tochter neun Monate alt war. «Laufen oder stehen konnte ich nie», erzählt Bettina. «Und seit 15 Jahren habe ich nichts mehr gegessen, weil ich nicht mehr Kauen und Schlucken kann.»
Ernährt wird sie mit einer Magensonde. Doch die Freude an kulinarischen Exklusivitäten lässt sie sich davon nicht nehmen. «Ich sammle leidenschaftlich Rezepte und erinnere mich bei jedem daran, wie diese Gerichte geschmeckt haben. Käse, zum Beispiel, den mochte ich nie.»
Doch Käse ist gerade Bettinas kleinstes Problem. Viel schwerer auf dem Magen liegt ihr der Kampf mit ihrer Krankenkasse. Denn die will ihr das Medikament Spinraza nicht bezahlen, das seit 2017 in der Schweiz zugelassen ist und das den Verlauf von SMA stoppen kann.
Das Medikament ermöglicht eine vielversprechende Therapie für alle SMA-Patienten; ein medizinischer Hoffnungsschimmer, leider einfach ein wahnsinnig teurer. Die Behandlung kostet im ersten Jahr knapp 600'000 Franken, in den Folgejahren noch 300'000 Franken. Für Patienten unter 20 übernimmt die Invalidenversicherung seit vergangenem Jahr die Kosten. Alle anderen müssen mit ihren Krankenkassen verhandeln – ein meist hoffnungsloses Unterfangen.
Solange sich nämlich das Bundesamt für Gesundheit und der Hersteller von Spinraza nicht auf einen Preis geeinigt haben, wird Spinraza nicht in die sogenannte Geburtsgebrechen-Medikamentenliste aufgenommen. Und solange das nicht geschieht, sind die Krankenkassen nicht verpflichtet, zu bezahlen.
Das Bundesamt sagt auf Nachfrage, man prüfe derzeit eine Aufnahme. Der Spinraza-Hersteller Biogen mit Sitz in Zug sagt, der Antrag zur Vergütung des Medikaments sei «leider bis heute nicht bearbeitet» worden. Während Bettina von Tag zu Tag schwächer wird, zaudern die Zuständigen in den Berner Amtsstuben und den Zuger Chemielabors.
Für Nicole Gusset ist das eine unhaltbare Situation. Gusset ist Präsidentin der Patientenorganisation SMA Schweiz. Ihre Tochter leidet wie Bettina unter der seltenen Krankheit. Und der Stillstand auf dem offiziellen Parkett macht sie fertig.
Mit offenen Briefen an den Bundesrat, Interpellationen im Parlament und Medienkampagnen hat ihre Organisation über Jahre Druck gemacht. Dass mit Spinraza jetzt eine Lösung in greifbarer Nähe ist, die für alle über 20-jährigen Betroffenen dennoch praktisch unerreichbar bleibt, sei frustrierend. «Ich wünsche mir, dass der Kampf um Medikamentenpreise in Zukunft nicht mehr auf dem Rücken der Patienten ausgetragen wird», sagt Gusset.
Doch «in Zukunft», das ist für Bettina wohl zu spät. Die vergangenen Jahre waren eine stetige Abwärtsspirale. Jeden Tag investieren ihre Eltern mehrere Stunden in die Therapie, saugen Sekret aus ihrer Lunge ab, unterstützen sie, wo es nur geht. Die Wohnung ist voll mit medizinischen Gerätschaften und Kisten mit sterilen Materialien.
Keine Haustiere, keine Topfpflanzen, kein erkälteter Besuch, zwischen dem Lächeln ab und zu traurige Blicke im Gesicht der Mutter, die dicht neben Bettina am Küchentisch sitzt und ihrer Tochter immer wieder das über die Stirn gespannte Fixierband löst, wenn Bettina «Kopf» sagt.
Am Küchentisch sitzt an diesem Winternachmittag auch Wolfram Groddeck, bei dem Bettina an der Uni Zürich Literatur studiert hat. Er besucht seine ehemalige Studentin regelmässig. An Weihnachten hat er einer Bekannten von Bettina erzählt, von ihrem brillanten Kopf, der da gefangen in diesem schwachen Körper einem schrecklichen Schicksal zusteuert. Die Bekannte war die Kommunikationsspezialistin Ivana Leiseder.
Kurz darauf sass sie in Bettinas Wohnung und hörte ihr zu. Leiseder trommelte ein paar Freunde zusammen und machte sich ans Werk. Innert weniger Tage lancierte sie mit ihrem Team von Freiwilligen eine Online-Kampagne unter dem Titel «Bettina will leben» auf der Sammelplattform GoFundMe.
Am 10. Januar, Bettinas 31. Geburtstag, ging die Kampagne online. Das Ziel: Innert dreier Monate das nötige Geld zusammenzukriegen, damit Bettina mit der Spinraza-Therapie beginnen kann. Seit 14 Tagen läuft die Sammelaktion.
Und Bettina, die sich selbst nie getraut hätte, öffentlich um Geld für ihre Behandlung zu bitten, kann kaum glauben, was gerade passiert. 2935 Personen haben sich bereits als Spender verpflichtet und 332'101 Franken auf ihr Konto überwiesen.
Ihre Aktion bricht alle Rekorde der Plattform GoFundMe im deutschsprachigen Raum. Die Spendenbeträge bewegen sich zwischen einem und 25'000 Franken. Ein Unterstützer hat Bettina besonders berührt. «Unter den Spendern ist ein Mann, der selber an SMA leidet und der von seiner Krankenkasse ebenfalls im Stich gelassen wurde. Er hat mir geschrieben, er wolle nicht, dass es mir gleich ergeht wie ihm.»
Sie sei eigentlich immer ein optimistischer Mensch gewesen, sagt Bettina zwischen den Zischlauten ihres Beatmungsgerätes. «Aber viel Hoffnung hatte ich zuletzt nicht mehr.» Die 400'000 Franken, die sie braucht, um sich im Zürcher Unispital die ersten vier Spinraza-Dosen ins Rückenmark spritzen zu lassen, dürfte sie bald beisammenhaben. Dann ist ein erster grosser Schritt geschafft. Dann ist wieder mehr Zeit für Hoffnung auf mehr Kraft in ihrem Zeigfinger und auf mehr Speed in den Berner Amtsstuben.
Allzu grosse Zukunftspläne aber will Bettina noch keine schmieden. «Ich will lesen, schreiben, sprechen, einfach leben», sagt sie, ganz im Sinne ihres grossen Vorbilds Robert Walser. Der Schweizer Schriftsteller schrieb einst auf einen seiner berühmten kleinen Notizzettel: «Man lebt nicht, wenn man nicht für etwas lebt.» Und sei es nur das Leben selbst. (aargauerzeitung.ch)