Liebe Frauen, lasst doch diese Sternli im Gesicht sein
Ich sitze in der S8. Mir gegenüber nimmt eine Frau Platz. Ich sehe sie kurz an. Dann muss ich es gleich nochmals tun. Irgendetwas in ihrem Gesicht irritiert mich.
Nein, es sind nicht ihre stechend grünen Augen. An ihrem Kinn klebt ein schwarzer Stern. Muss ich sie darauf hinweisen, dass an ihrem Kinn ein schwarzer Stern klebt?
Muss ich natürlich nicht! Sie hat ihn nämlich extra da hingeklebt. Es ist ein Pickel-Pflaster – oder wie es im englischen Fachjargon heisst: ein «Pimple Patch».
Die Frau gegenüber von mir hat also einen Pickel am Kinn. Ich merke, wie ich viel zu lange schon auf ihr Kinn starre. Sie merkt es auch. Wir haben Blickkontakt – unangenehm.
Normalerweise schaue ich anderen nicht auf die Pickel. Ähh, oder auf die Sticker, die den Pickel ja eigentlich verdecken sollten, seinen Standort stattdessen aber nur noch deutlicher klar machen.
Anstatt weiter zu starren, schaue ich auf mein Smartphone und fange an zu googeln. «Pimple Patches» und zägg springen mir Herzchen, Avocados, Sternli in Schwarz, Blau, Gelb und Pink entgegen.
An sich herzige Stickers. Für Briefe, Geburtstagskarten oder um meinen Terminkalender aufzupeppen. Die Schwarze-Sternli-Frau vis a vis von mir peppt so aber ihr Gesicht auf. Oder wie es eine Produktbeschreibung formuliert:
Sichtbar ja. Definitiv. Ich meine, der schwarze Stern am Kinn der Frau hat ihren grünen Augen komplett die Show gestohlen.
In der Spiegelung meines Smartphones sehe ich gerade mein Kinn. Hallo, meine roten Freunde! Wollt ihr auch lieber funkeln wie die Sterne im klaren Nachthimmel? So zahlreich, das ergäbe eine ganze Milchstrasse!
Es hat lange gedauert, bis ich meine eskalierende Haut akzeptieren konnte. Seit ich die Pille nicht mehr nehme, also jetzt schon 4 Jahre, kann man wöchentlich verschiedene Sternbilder an meinem Kinn ablesen. Es hat mich schon genügend Überwindung gekostet, die Rötungen nicht immer komplett abzudecken, sondern diese einfach so zu belassen.
Hinzu kommt, dass ich mein Kinn am Tag sicherlich 20 Mal anfasse, um sicherzugehen, dass auch alle meine Pickel noch schön beisammen sind – auf dass mein Sternbild erhalten bleibt. Wenn da auf diese Dellen aber nochmals eine Schicht draufkäme, würden meine Finger das als Extra-Einladung verstehen, noch mehr an der betroffenen Stelle herumzufummeln.
Doch genug vom Kinn. Auch an meiner Nase oder an der Stirn fühlen sich meine Pickel besonders wohl. Und auch an diesen Stellen würde ich keinen Stern platzieren. Wieso sollen dort Sterne hingehören?
Ich sitze immer noch der Schwarzen-Sternli-Frau gegenüber. Was will sie für ein Statement setzen? Pickel sind cool? Sicherlich nicht. Pickel sind menschlich? Ja, 100 Prozent. Doch wieso gleich ein Statement daraus machen?
Ist es nicht schon Statement genug, den Pickel nicht abzudecken? Ihn so rot, schön, wunderprächtig stehenzulassen?
Das einzige Argument zugunsten der «Pimple Patches» sind die Wirkstoffe im Sticker, die den Pickel möglichst schnell verschwinden lassen sollen. Doch dafür muss ich mir noch lange keinen Stern aufs Gesicht klatschen – schliesslich gibt es dieselben Sticker auch in transparenter Form.
Die Schwarze-Sternli-Frau steht nun auf. Zwängt sich durch die Leute, zum Ausgang. Ich fahre noch eine Station weiter und greife nun schon zum sechsten Mal an diesem Tag an mein Kinn und stelle beruhigt fest, dass sich bei meinem Sternbild nichts verändert hat.
