Sie war da, endlich! Sie lebte! Sie war schön wie immer, nur hinkte sie ein wenig. Hätte es sich um jemand anderen gehandelt, wäre es ihm nicht aufgefallen. Aber ihren Gang kannte er. Zu oft hatte er ihr hinterhergeschaut, wie sie mit ihren zierlichen Füsschen aus seinem Sichtfeld hinausspaziert war. Aber jetzt spazierte sie nicht mehr. Ihr ganzes Schweben war weg, einem elenden Hinken gewichen! Welcher Schuft hatte ihr das bloss angetan, dachte sich Roger.
Schon wollte er hinstürmen zu ihr, doch mitten auf dem Weg zur Kaffeemaschine, wo Géra noch immer auf ihren Espresso wartete, blieb er abrupt stehen.
Sie wusste alles über jenen Abend, und er wusste nichts. Wie verödet er sich noch immer fühlte, die reinste Sahara in ihm drin, das war nicht einfach nur ein leergekübelter Magen, da kam noch eine leergekübelte Seele dazu. Und wahrscheinlich hatte sie alles davon gesehen.
Plötzlich stand Géra vor ihm. «Roger!», sagte sie lächelnd. Roger wurde rot und versuchte, ihren Namen ebenso bestimmt zu sagen. Aber es klang piepsig. Wie von einem Küken, das aus dem Nest gefallen und vor die Füsse eines viel mächtigeren Wesens gekullert war.
«Wirst du mich zertreten?», fragte Roger.
«Was?» Géra lachte. «Selbst wenn ich wollte, könnte ich nicht, ich hab mich am Fuss verletzt, kein Zertreten möglich aktuell.»
«W ... Was ist passiert?», stotterte Roger.
«Eine Scherbe. Von deiner Herzlisonnenbrille. Ich bin voll reingestanden, als wir ...» Sie zwinkerte.
Und endlich, nach so vielen Stunden quälender Leere und Angst, kamen die sehnlich erwarteten Bilder, sie fluteten Rogers Gehirn, brandeten meterhoch auf an seinen Schädelwänden.
«Ich hab sie nicht getötet, ich hab sie gebumst!», dachte er strahlend. Dann versuchte er sofort, wieder Herr der Lage zu werden.
«Oh, ja. Die Scherben, genau. Sorry.»
«Kein Ding, ich hätte es vorher verarzten sollen, aber dann kam deine Tarnanzug-Show dazwischen!»
Und als sich auch dieses Bild vor Rogers innerem Auge zu entfalten begann, schob sich vor sein äusseres Nicole. Sie würdigte ihn keines Blickes, den hatte er nicht verdient, so blöd, wie er ihr gekommen war, als sie wissen wollte, was Marco vom Sales ihm zugeflüstert hatte. Nicole wollte Roger eine kleine Lektion in Sachen Anstand erteilen.
«Géra!», rief sie, «ich muss unbedingt mit dir sprechen!» «Nicole, aber klar!», antwortete ihr Géra, «gesell dich zu uns!»
«Es ist leider privat», fügte Nicole an, mit einem Grinsen an Roger.
«Ah, sicher, dann komm mit, wir gehen in mein Büro!»
Da stand Roger nun. Und fühlte sich weder bestellt noch abgeholt. Der so elend Zurückgelassene brauchte einen Moment, bis die Kränkung ihn so weit verlassen hatte, dass er wieder gehen konnte. Was fand jetzt Géra die Privatheit von Nicole spannender als seine? Er hatte den TAZ angezogen, verdammt nochmal!
Zurück an seinem Pult checkte er seine Mails wie ein wahnsinnig gewordener Specht. Sein Zeigefinger, einem Meisselschnabel gleich, hämmerte auf die Maus, als würde er sie gern zerspanen. Das waren an die 100 Schläge pro Minute, mindestens. Und sie gingen alle ins Leere. Immerhin wurde er so seinen Zorn los. Als Nicole wiederkam, hatte Roger sich schon fast wieder ganz abreagiert.
«Du Schlingel!», sagte sie mit erhobenem Zeigefinger, sichtlich beeindruckt von ihrem Pultnachbar.
«Was?»
«Ich weiss jetzt alles.»
«Was!», doppelte Roger nach.
«Du Schlingel hast sie mit zu dir genommen! Ich muss sagen, Hut ab, Roger.»
Er lächelte. «Tja. Ich bin eben unwiderstehlich.»
«Offenbar. Und eben das hat Géra auch Marco vom Sales erzählt. Dass du es drauf hast. Dass du eine sensationelle Technik hast. Deshalb kam er zu dir! Er wollte von dir lernen!» Sie lachte laut heraus. «Ist das zu fassen, Marco vom Sales wollte von Roger Fässler wissen, wie man Géraldine Fuchs verführen kann!»
Roger konnte es im ersten Moment selbst nicht fassen. Bis er es dann doch konnte. Dazwischen lagen ungefähr drei Sekunden. Die neue Realität war da, von Nicole bestätigt. Und sie schien ihm so, wie er sie begrüsste: Er war unbestreitbar eine Granate im Bett.
Es kommt schon vor, dass logische Beweisführungen am männlichen Ego zerschellen. Das ist hier wohl gerade passiert. Und es ist schwierig zu sagen, ob es am Ende nicht sogar das kleinere Übel ist, als wenn jetzt hier statt der Logik das Ego zerschellt wäre.
In Rogers Fall würde das eine zu einem gebrochenen Herz, das andere zu einem gebrochenen Mann führen. Aber schön der Reihe nach.