Ich war dabei. Am Tag, als Angelo Kelly den Zuschauerrekord von «Goodbye Deutschland» brach. Ich wusste: Shit, das wird gross. Mein TV-Gespür trügt mich nie. Als Daniela Katzenberger vor vielen Jahren ihren ersten Auftritt hatte, schlug mein Katzengold-Detektor weit aus.
Da war dieser Mann, der seine Haare als Letzter seiner Art noch immer hüftlang trägt, und an seiner Seite: Frau Kira und fünf Kinder. Das ist im Vergleich zu den zwölf Ur-Kelly-Family-Geschwistern, von denen Angelo der Jüngste ist, natürlich erst ein Anfang, aber immerhin. Die Sippenbildung geht munter weiter. Und die Saga. Die bedingt, dass man in Bus oder Boot durch die Welt reist, die Kinder per Homeschooling unterrichtet, irgendwas mit Irland zu tun hat, immer etwas aus der Zeit gefallene Mode trägt und Folksongs singt.
Das war vor zwei Jahren. Die Wiedervereinigung der Kelly Family stand kurz bevor. Bis dahin verdiente Angelo das tägliche Brot als Strassensänger. So wie die Kelly Family in den Siebzigern angefangen hatte. Nicht etwa in Irland, wie uns ihr Look immer weismachte, sondern mit spanischer Musik in Spanien.
Dorthin war Daddy Dan Kelly, ein amerikanischer Lehrer mit irischen Vorfahren, nämlich 1966 mit Frau, Kindermädchen und seinen ersten vier Sprösslingen ausgewandert. Sie lebten als Selbstversorger, hatten weder Heizung noch fliessendes Wasser. Das Kindermädchen, eine Balletttänzerin namens Barbara, wurde schnell seine Geliebte, gebar ihm flugs zwei weitere Kinder, John und Patricia, aus der ersten Frau wurde eine Ex, aus Barbara die neue Mrs. Kelly. Es gab Ballett, Musikunterricht und lange Haare für alle.
Die Kelly Family war damals auf ihrem ersten Peak, in Spanien kannte sie mittlerweile jeder, auch in Holland und Belgien hatten sie schon an der Spitze der Charts gestanden, aber der Tod der Clanmutter brachte alles zum Stillstand. Der depressive Vater zog mit allen Kindern nach Paris, die Älteren wurden zum Singen auf die Strasse und in die Metrostationen geschickt, die Jüngeren mussten im Hotelzimmer bleiben und durften nur am Mittwochnachmittag zum Spielen raus.
Sie sangen jetzt auf Französisch. Bald traten sie auch in Frankreich im Fernsehen auf, der kleine Paddy beherrschte die neue Fremdsprache so perfekt, dass er vor laufenden Kameras ihre Auftritte anmoderierte.
Und dann kam Deutschland. Das Hausboot im Kölner Hafen, der Riesenerfolg in der DDR, schliesslich auch im Westen, die Dominanz von Charts, Musikshows und «Bravo»-Covern. 200 Konzerte im Jahr, 400 Angestellte, Büros in China, London, den USA. Der Kauf eines Schlosses bei Köln und mehrerer Häuser in Irland und Spanien. 20 Millionen verkaufter Tonträger, Teenie-Hysterien.
Als er 2002 starb, hinterliess er seinen Kindern Schulden. Und das sichere Gefühl, bei aller Geschwisterliebe die eigene Jugend, das eigene Erwachsenwerden dem Megaerfolg und dem Clan geopfert zu haben.
Angelo war da zum Glück schon mit seiner Kira zusammen, dem Mädchen, in das er seit seinem zehntem Jahr verliebt war, für das er mit dreizehn «I Can't Help Myself» geschrieben hatte. Sie erhörte ihn, als er siebzehn war. Die beiden sind seit zwanzig Jahren ein Paar. Sie wollen alles gleich, aber besser machen als die Ur-Kellys. In einem irischen Wald haben sie sich mit eigenen Händen aus einer Ruine ein schönes Heim geschaffen.
Bruder Jimmy stürzte nach der Trennung der Band ab, hangelte sich knapp an der Obdachlosigkeit vorbei, lebte wieder als Strassenmusiker. Joey wurde zum Sportfanatiker. Paddy hatte Suizidgedanken, ging für sechs Jahre ins Kloster, heiratete danach seine Jugendliebe und machte erfolgreich weiter als Musiker. Maite heiratete ein Model, gebar drei Töchter, sang alleine und in Musicals und gewann «Let's Dance». Patricia erkrankte an einer schweren Rückenmarkentzündung, heiratete einen Russen, wurde Mutter von zwei Jungs und arbeitete an einer Solokarriere. Und so weiter.
Jetzt sind sie also wieder zusammen. Minus Maite und Paddy, aber wetten, dass die auf der Tour im nächsten Jahr ein paar Gastauftritte haben werden? Deutschland kann nicht genug von ihnen kriegen. Über 400'000 Menschen sahen sie 2018 live. Montag für Montag läuft aktuell die Vox-Dokreihe «Ein Sommer mit der Kelly Family». Pro Kelly eine Folge. Immer nach dem gleichen Muster: Pippi-Langstrumpf-Hippie-Kindheit, Aufstieg, Trennung, Zweifel, individueller, total bescheidener Neustart, irre Happiness in der geschwisterlichen Reunion.
Jeder und jede einzelne von ihnen ist wohl erzogen, weltgewandt, patent, liebevoll, natürlich, familienbewusst und hat ein bisschen Humor. Wenn sich das Wort authentisch jemals auf Menschen anwenden liess, dann auf diese. Die Beschädigungen, die ihnen der Erfolg zugefügt hat, scheinen verheilt. Sie sind gerettete Kinderstars. Und die Kindheiten, die sie nun ihren eigenen Kindern bieten sind zugleich behütet und abenteuerlich. Das sektiererisch anmutende Guru-Gehabe von Patriarch Dan geht ihnen allen ab.
Sie machen sich deepe Gedanken über Mensch, Kosmos, Gott, aber dass sie letzterem eine Spur mehr zugeneigt sind als der deutsche Durchschnitts-Protestant, behalten sie für sich. Sie sind keine Missionare. Auch nicht politisch. Schon gar nicht politisch. Ihr Engagement beschränkt sich auf Grössen, über die es keine Uneinigkeit gibt: «die Armen», «die Kinder», «der Frieden», «der Krebs».
Und jetzt? Sind sie überall. Wer kann, in der TV-Welt, greift sich schnell einen Kelly. Kein Problem, es sind ja ein paar davon da. «The Voice of Germany» wird gerade von Ex-Mönch Paddy dominiert, die meisten Kandidaten wollen in sein Team. Weil er sagen kann: Hey, ich komm aus dem Nichts und erst noch aus dem Vordigitalen, mit mir kannst du's echt schaffen, ich kenn alle Höhen, Tiefen, Tricks.
Würden sie eine Partei gründen, deren Vorsitz einzig aus Kellys besteht, sie hätten sofort Erfolg. Sie wären wohl etwas noch nie Dagewesenes zwischen christlich, grün und sozial. Eine Partei wie eine gute elterliche Umarmung. Deutschland ist süchtig nach den Kellys, und vielleicht sind sie als Droge oder Vorbild gar nicht mal so schlecht. Weil sie alle ihren Seelenfrieden gefunden haben. Es liegt ein unwiderstehlicher Zauber über ihrem Family-Fantasialand.