«Meine Mutter ist Alkoholikerin. Natürlich habe ich realisiert, dass meine Mutter irgendwie anders war als andere Mütter. Im Denken und Sprechen war sie verlangsamt. Dass sie alkoholsüchtig ist, habe ich erst als Teenager richtig realisiert, als Mitschüler sagten: ‹Hey, deine Mutter ist Alkoholikerin.› Es ist nicht so angenehm, als 13-Jährige damit konfrontiert zu werden. Was soll man darauf antworten? Ich habe beschlossen, keine Kolleginnen und Kollegen mehr zu mir nach Hause einzuladen, um Hausaufgaben zu machen oder zu spielen.
Es war mir peinlich. Sie sollten nicht sehen, wie viel Bier meine Mutter trinkt. Ich habe mich von gewissen Personen distanziert. Zu meinem eigenen Schutz und auch, um meine Familie zu schützen. Wenn trotzdem jemand zu mir nach Hause kommen wollte, habe ich Ausreden erfunden. Ich habe zum Beispiel gesagt, meine Mutter sei krank.
Als Kind war es normal für mich, dass sie immer ein Bier in der Hand hatte. Es war auch nicht so, dass sie sich im Suff um nichts mehr gekümmert hat. Sie nahm ihre Pflichten weiterhin wahr und mein Vater und meine Grosseltern waren ja auch noch da. Sie haben versucht, meinem Bruder und mir Normalität zu geben.
Über den Alkoholkonsum meiner Mutter haben wir nicht gesprochen. Mir ist einfach aufgefallen, dass sie abends oft erst sehr spät nach Hause kam. Wenn sie um 21 Uhr nicht da war, wusste ich, sie würde irgendwann kommen, wenn wir Kinder schon im Bett waren. Manchmal hörte ich meine Eltern dann streiten.
Sehr lange habe ich mit niemandem über die Alkoholsucht meiner Mutter gesprochen. Ich habe mich zurückgezogen und war auch nicht ganz ehrlich, wenn Leute mich fragten, wie es mir gehe. Ich habe immer gesagt, es gehe mir gut und ein Lächeln aufgesetzt. Niemand sollte wissen, dass etwas zu Hause nicht gut ist. Ich habe die Gefühle unterdrückt und mich darauf konzentriert, die Schule und die Lehre gut abzuschliessen. Ich hatte das Gefühl, ich könne das alles selber lösen. Bis ich einen Zusammenbruch hatte.
Richtig schlimm war die Zeit, als es meiner Mutter körperlich nicht mehr gut ging. Sie hatte angefangen, Blut zu erbrechen und ihre Leber war entzündet. Die Komplikationen wurden so schlimm, dass es lebensbedrohlich für sie wurde.
Damals steckte ich mitten in der Ausbildung. Trotzdem war ich einmal bis morgens um vier Uhr bei ihr im Spital und sass um acht Uhr wieder in der Schule oder erschien zur Arbeit. Ich habe funktioniert. Habe geschaut, dass meiner Mutter nichts passiert, sie am Leben bleibt und daneben mein eigenes Leben weitergeführt.
In dieser Zeit stellte ich mir oft die Frage, warum sie weitertrinkt. Sie merkte doch, dass ihr Körper nicht mehr kann. Ich war wirklich wütend auf sie, weil sie nicht begriff, dass ich sie als Mutter noch brauche und nicht wollte, dass sie so früh stirbt.
In dieser schwierigen Zeit habe ich das erste Mal mit ihr über ihren Alkoholkonsum gesprochen. Ich habe ihr auch gesagt: ‹Wenn du nicht aufhörst, hast du keine Tochter mehr.› Es war eine Handlung aus Verzweiflung.
Inzwischen weiss ich, dass es nicht immer produktiv ist, Alkoholiker unter Druck zu setzen, weil manche dann aus Trotz oder Verzweiflung weitertrinken. Aber so weit habe ich damals nicht überlegt. Ich habe es einfach gesagt und anscheinend brauchte sie diesen Nachdruck, um den Weg der Abstinenz zu gehen. Inzwischen ist sie seit eineinhalb Jahren trocken und ich bin stolz auf sie.
Unsere Beziehung ist heute wieder besser. Meine Mutter hat ihr Leben komplett verändert. Sie suchte Hilfe bei der Suchtberatung, geht regelmässig zu den Anonymen Alkoholikern und geht einer Beschäftigung nach. Sie ist sich bewusst, was sie getan hat und welche Verletzungen sie durch ihr Verhalten in der Familie verursacht hat. Im Nachhinein weiss ich, dass sie nichts dafür kann, weil ihre Sucht sie im Griff hatte.
Trotzdem bin ich ihr böse, weil sie so lange gebraucht hat, das alles einzusehen. Heute frage ich sie regelmässig, wie es läuft mit der Abstinenz. Ehrlichkeit ist mir sehr wichtig. Meine Mutter hat mich schon so oft enttäuscht, gesagt, sie höre auf mit dem Alkohol auf, und dann trotzdem weitergetrunken. Das hat mich mitgenommen und unsere Beziehung belastet. Würde sie ein Bier trinken, wäre es mir lieber, wenn sie mir das sagen würde, anstatt es vor mir zu verheimlichen.
Als ich noch zu Hause bei meinen Eltern wohnte, konnte ich ihren Konsum kontrollieren. Deshalb bin ich mit einem schlechten Gefühl ausgezogen. Meine Mutter war damals noch nicht ganz stabil und ich war mir nicht sicher, ob sie wirklich standhaft bleiben würde. Ich habe mir ständig Gedanken gemacht, habe bei jedem Anruf von ihr gedacht, es sei etwas Schlimmes passiert. Es war ein Zwang für mich, sie zu kontrollieren.
Gleichzeitig plagte mich das schlechte Gewissen, dass ich nicht mehr dort sein würde, wenn etwas wäre. Es fällt mir bis heute schwer, auch einmal auf mich und meine Bedürfnisse zu hören. Das habe ich in meiner Kindheit nie richtig gelernt. Ich habe immer zuerst für die anderen geschaut. Zu akzeptieren, dass sie die Verantwortung für sich selber trägt, ist schwierig. Es geht ja um meine Mutter.
Seit eineinhalb Jahren bin ich bei einer Psychologin, die mir hilft, die Erlebnisse meiner Kindheit aufzuarbeiten. Ich hatte so lange alle Emotionen geschluckt, bis es mich zusammenlegte und mein Partner sagte, so gehe es nicht weiter, ich müsse mir Hilfe holen. Ich merkte selber, dass ich immer traurig war und mich ausgelaugt fühlte, obwohl ich eigentlich eine Frohnatur bin, die gerne und viel lacht.
Aber damals habe ich alles negativ gesehen. Trotzdem schämte ich mich zuerst, Hilfe zu holen. Inzwischen bin ich aber froh, dass ich den Mut hatte. Es ändert sich nichts, wenn man nichts sagt. Es wird nur schlimmer.»
*Name geändert
Aufgezeichnet von Noemi Lea Landolt (aargauerzeitung.ch)